26.10.2002
Ein kleiner Raum voller Leute.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich hergekommen bin. Ich könnte niemandem mit Worten erklären, warum ich gekommen bin. Aber ich habe ein ziemlich genaues Bild davon, was ich hier soll.
Was alle anderen hier sollen, ist mir nicht klar. Und ist mir nicht so wichtig, wie es sein sollte. Ich starre in die spiegelnde Scheibe des Fensters und versuche mich auf die Vampire hinter mir zu konzentrieren, anstatt dem flüchtigen, wütenden Muster zu folgen, das der Sturm mit Blättern in die Luft zeichnet.
Josefa und ihr Bruder. Dass sie den Ruf der Krähen gehört haben, wundert mich nicht. Irgendwo in meinem Hinterkopf sagt mir ein kleiner Teil meines Bewußtseins, dass ich dankbar für ihre Anwesenheit sein sollte. Sie schnell wegschicken sollte.
Frau Damiroff. Ihr makelloses Gesicht spiegelt sich neben meinem entstellten in der dunklen Scheibe und erinnert mich an... Ist sie wieder hier, um zu bezeugen, dass ich Malekin bin? Flieh doch, solange du noch kannst! Noch hält dich kein Bannkreis!
Herr Kramer und Frau Schütz. Die Wohnung, das ganze Haus sieht aus, als wäre es für sie gemacht. Aber manchmal ist zu hause nicht der sicherste Platz. Warum machen sie nicht einen kleinen Spaziergang? Bitte?
Gregor Ponte. Als würden sich Krähen um einen Wolf scheren.
Malfeis. Natürlich. Undurchschaubar wie immer. Ist er hier, um sich an unserer Not zu weiden? Oder will er nur, dass die Familie vollzählig ist?
Malekin. Ich muss mich zwingen, mich nicht zu ihm umzuwenden. Nicht zu ihm zu gehen. Er spürt die unerträgliche Spannung, mehr noch als ich. Wie damals, in der Nacht, als ich den Kuss empfangen sollte und Malekin vorgestellt wurde. Doch kein Elysium heute nacht. Niemand, der ihn festhalten wird. Niemand, der ihm von seinem Blut geben wird, um seine Verletzungen zu heilen. Niemand, der ihm ein Tuch reichen wird, um sie vor Anna zu verbergen.
Anna. Ihr Gesicht im Spiegel der Scheibe neben meinem. Wie damals... Lauf, dummes Mädchen, lauf! Geh nicht vom Weg ab, Rotkäppchen, sprich nicht mit Fremden, sonst gehörst du dem Wolf.
Doch sie hört nicht auf mich. Schmiegt sich von hinten an mich. Sagt, dass sie mich vermisst hat. Und plötzlich möchte ich dem Druck nachgeben und zusammenbrechen, möchte mich an ihr festklammern und mir die Seele aus dem Leib weinen.
Möchte meine Zähne in ihren Hals schlagen und trinken, bis zur Besinnungslosigkeit, bis zur völligen Leere. Bis ich satt bin, endlich satt...
Ich nehme ihre Hand und drücke sie sanft. Wird sie heute mutiger sein als ich es damals war? Sie kennt uns, besser, länger, weiss mehr von dem Tier in uns als so mancher von uns.
Was wird sie denken, wenn sie den Menschen in uns kennenlernt, der so viel schlimmer sein kann als jedes Tier?
We'll see how brave you are...
Ich muss es ihr sagen.
"Zu viele." Meine Stimme funktioniert also. Kratzend, heiser, kein Genuss für die Ohren - ganz zu schweigen von meiner Kehle - aber ich kann sprechen.
"Es sind zu viele hier", wiederhole ich, und bin mir nicht sicher warum ich das sage. Fürchte ich, dass jemand verletzt werden könnte? Ist das nicht ihr eigenes Risiko? Nur um Anna muss ich mich sorgen. Eltern haften für ihre Kinder...
Und das heisst, dass Anna vielleicht bald zum zweiten Mal Waise wird.
"Vielleicht ist es besser. So ist jemand da, der auf dich aufpassen kann."
Sie sieht mich an, und in ihrem Blick sehe ich keine Spur von Angst um sich selbst. Nur um mich. Tapferes Mädchen.
We'll see how brave you are...
"Du passt doch auf mich auf." Sie nimmt meine Hand.
"Aber vielleicht werde ich..." nicht mehr da sein, um auf dich aufzupassen, will ich sagen. Wähle ich andere Worte, um sie zu schonen? Oder um es vor mir selbst zu beschönigen? "...das bald nicht mehr können." Ihr bestürzter Blick sagt mir, dass ich ersteren Zweck verfehlt habe. Und es ist keine Zeit mehr für Erklärungen.
Die Tür öffnet sich. Der Raum wird kälter, dunkler, die Gespräche verstummen. Feuchte, modrigen Wände. Schreie. Wimmern. Der Geruch von verbranntem Fleisch. Der Abt tritt ein. Malekin geht zu Boden. Die Bösen Dinge. Ich sehe spüre den Schmerz und das Entzücken, das ihm die Anwesenheit seines Vaters bereitet. Und die Angst. Spürt er sie auch? Ist er deswegen hier? Weiss er...?
Ich drücke mich fest an Anna. Nur einer in jeder Generation. Kein Weg, auf dem ich ihm nicht folgen werde.
Aufnahme

Entlassung