Und die vielen Touristen hier sind zwecks Müdigkeit direkt schweigsam. Relativ. Ich versuche ihnen zu entkommen, und laufe ein paar aufdringlichen Tempelwächtern in die Arme, die sich als Aushilfs-Fremdenführer ein Zubrot verdienen wollen. Sie zeigen mir ein Relief von Ramses II. Als ob ich das nicht selbst hätte erkennen können. Ein Pfund, nicht mehr.
Viel interessanter ist das Allerheiligste von Alexander dem Großen, das offenbar einem sexuell sehr aktiven Amun geweiht ist. Auch Göttern kommt es offenbar auf Größe an.
Noch viel interessanter: überall Ausgrabungen. Wie gern würde ich mitmachen!

Karnak.
Eine Allee aus widderköpfigen Sphingen führt auf gigantisch Pylone zu. Unwillkürlich halte ich den Atem an, als wir dazwischen durchgehen. Ich will jedes kleine Detail in mich aufnehmen, obwohl schon der Gesamteindruck, die riesigen Lotus- und Papyrusköpfigen Säulen, die Kolosse mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen, die unzähligen Reliefs, die langen Reihen der Sphingen mit würdevoll-leerem Blick fast über das Fassungsvermögen meiner Sinne gehen.
Ich schließe die Augen, verschließe meine Ohren vor dem Lärm, den die anderen machen, höre nur das Knirschen des Kieses unter meinen Füßen, spüre die Sonne auf meiner Haut... Ein heiliger Ort. Aber kein Ort, um demütig niederzuknien, den Blick zu senken und ehrfürchtig zu schweigen. Dies ist ein Ort, aufrecht zu schreiten, erhobenen Hauptes, stolz und mit wachen Sinnen wahrzunehmen, was man durch seine eigene, göttliche Kraft geschaffen hat. Ich bin eine Königin, ein Pharao, ein Architekt, ein Sklaventreiber...
Ich stehe vor einer der unzähligen Säulen. Zwischen den rätselhaften Reliefs entdecke ich vertraute Schriftzeichen; schon vor 100 Jahren haben offenbar Touristen die Gewohnheit gehabt, sich auf verbrecherischste Weise in alten Heiligtümern zu verewigen. Ein seltsamer Zufall: auf Augenhöhe ‚A. Lewis, 1890'. Zwei Meter höher, d.h. die Säule samt Autogramm muß von Sand verschüttet gewesen sein: ‚W. S. Lewis, 1945'. Dieselbe Familie? Wenn ja, haben sie einen doppelten Fluch auf sich und ihre Nachkommen geladen?
Neben den üblichen Symbolen, die ich schon vor der Reise in zahllosen Büchern studiert habe, finden sich auf den Säulen weiter hinten im Tempel noch fremdartigere, ausdrucksstärkere Zeichen.

Wespen. Schnecken. Waffen. Werkzeuge? Ein Mann, der einen anderen, knienden mit etwas auf den Kopf schlägt. Ich hoffe, das sind Haare, was da aus seinem Kopf kommt.
Ich will diese Schrift studieren und alle Geheimnisse, die sie birgt entschlüsseln.
Ich habe meine Reisegruppe verloren. Irgendwo dort hinten, zwischen den Säulen, auf dem Hauptgang müssen sie sein. - Bin ich wahnsinnig? Das ist die Gelegenheit, all diese Eindrücke ungestört zu genießen! Ich ziehe mich weiter zwischen die Säulen zurück. Hier ist es viel interessanter als auf dem ausgetretenen Hauptgang, wo alle sind, weil man da die hübschen Farben noch sehen kann. Bunte Bildchen. Interessiert keinen der Inhalt dieser Reliefs?
Hier hinten ist alles etwas verfallener, ich entdecke sogar einen Raum mit Gitter davor, in dem im Halbdunkel eine zerstörte Statue ihrer Restaurierung harrt.
Schattige Gänge führen fort von den riesigen Säulen, in geheimnisvolle Labyrinthe zwischen hohen Mauern, vorbei an dunklen Nischen und versperrten Treppen. Ein Durchgang mit einer Kordel davor.
Hält das irgendeinen neugierigen Touristen wirklich auf? Bestimmt nicht, das ist nur eine Ausrede für Versicherungen, damit sie nicht zahlen müssen, wenn sich jemand den Fuß bricht. Mich hält es jedenfalls nicht ab. Der Raum ist kühl und dunkel und fühlt sich unerwartet groß an. Wächserner Geruch in der Luft. Meine Augen gewöhnen sich an das schwache Licht und bestätigen mein Gefühl: die Kammer ist riesig, der Boden fällt leicht ab, an der hinteren Wand stehen Gegenstände, deren Form nicht einmal annähernd zu identifizieren ist. Die Farben der Wandreliefs sind ungewöhnlich gut erhalten, viel rot und weiß und klare, schwarze Linien... nur deswegen kann ich sie überhaupt so gut erkennen. Umso befremdlicher wirken die Motive. So viele Schlangen, zweiköpfig, geflügelt, mit Sonnenkrone, mit Krokodilskopf, als Mensch mit zwei Schlangenköpfen... Aus dem Augenwinkel nehme ich am Boden eine Bewegung wahr - eine Schlange? Wider besseres Wissen zucke ich zusammen und fahre herum. Hinter mir im Eingang ist keine Schlange, dort steht ein Mann. Ein großer Mann mit nacktem Oberkörper und hellem Rock, und sein Kopf sieht aus wie der eines...

Aufnahme

Entlassung