Mir stockt der Atem.
Seth ist gekommen, um die Frevlerin aus seinem Allerheiligsten zu vertreiben
und sie zu bestrafen
Ich weiche zurück, versuche an ihm vorbei zum Eingang zu kommen. Er dreht
sich beängstigend langsam nach mir um und das schwache Licht fällt
auf sein Gesicht. Es ist nur ein alter Mann in einem Kaftan und einem schlampig
gewickelten Turban. Sicherlich einer der zahllosen Tempelwächter, der
auf ein Bakschisch hofft. Trotzdem macht er mir Angst, mein Herz rast immer
noch, ich will erst hier raus, dann kriegt er sein Geld. Er versperrt mir
den Weg; statt zurückzuweichen, macht er sogar noch einen Schritt auf
mich zu. Sein Gesicht ist eingefallen, tiefe Ringe unter den rotgeränderten,
dunklen Augen, eine ungesunde Hautfarbe, der Bart verfilzt und verwahrlost,
die Schneidezähne fehlen.
Ich versuche verzweifelt,
mich an ihm vorbeizudrängen, doch er legt mir die Hand auf den Arm und
hält mich mit einem Blick aus seinen schwarzen Augen fest. Obwohl er
meinen Arm nur ganz leicht berührt, bin ich unfähig, mich zu bewegen.
Langsam hebt er die andere Hand und legt sie an seinen Hals - als hätte
er Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. Er macht ein scheußliches, kehliges
Geräusch, und das bricht den Bann, ich reiße mich los, stoße
ihn beiseite, renne, renne bis ich die Sonne wieder spüre, den staubigen
Wind, die Freiheit des offenen Himmels über mir, Luft, Luft zum Atmen!
Der Nil.
Obwohl der Fluß so grandios ist, kann es kein längeres Wort dafür
geben, denn seine Erhabenheit muß jedem den Atem rauben. Die Sonne geht
unter, stirbt wie jeden Abend ihren sanften, stillen Tod, und der Himmel brennt
vor Sehnsucht nach ihr. Das schwere, weiche Licht, das sie hinterläßt,
macht das Wasser zu Quecksilber, die Palmen, die Dörfer aus Stroh und
weißen Ziegeln, die grazilen Minarette zu Geschichten aus 1001 Nacht.
Die Luft ist mild und gleichzeitig besitzergreifend schwer, der Wind gerade
so kühl, daß er eine Gänsehaut auf meine Arme küßt.
Motten kreuzen den Lichtschein des Schiffes und spielen Sternschnuppen. Vor
uns flirren die Lichter von Esna. Unwirklich.
Der Nil. Ich flüstere das Wort, und die Kühle, die Erhabenheit,
die Ehrfurcht macht mich schaudern.
Das Tal der Könige.
Von weitem betrachtet nichts als Berge und Täler aus grauem Sand und
scharfen Kieselsteinen. Darunter eine unermeßliche Fülle von Rätseln
und Geheimnissen.
Schwer genug, sich vorzustellen, wie diese Behausungen für die Toten
unter solchen Bedingungen - Hitze, Staub, keine Metallwerkzeuge - geschaffen
wurden. Wieviele Leben hat es gekostet, ein einziges Leben nach dem Tod zu
ermöglichen?
Aber noch ungeheuerlicher ist die Vorstellung von den hier begrabenen Herrschern,
die ihre Zeit damit verbrachten, magische Texte, Rituale und Zauberformeln
auswendig zu lernen, damit sie als Geister zurückkehren konnten, und
die vom ersten Tag ihrer Herrschaft an wie besessen an ihren eigenen Gräbern
bauten.
Als wäre der Tod nur das endgültige Ziel des Lebens. Wie ein Beruf
das Ziel einer Ausbildung ist. Vorbereitung ist unerläßlich. Vorbereitung
ist möglich!
Non vitae, sed morte discimus.
Der Tempel der Hatschepsut
Wieviel interessanter könnte diese Ruine sein, hätte nicht der Neffe
und Nachfolger von Königin Hatschepsut, Tutmosis III, sämtliche
ihrer Wandbilder zerstören lassen. Nicht mal die ameisenhaften Touristenmassen
können solche Vernichtung anrichten.
Die Reliefs, sogar die Farben sind sehr gut erhalten, nur das Gesicht der
Königin ist überall gnadenlos herausgemeißelt. Wie sehr muß
er sie gehaßt haben. Und wie wenig sie ihn: sein unversehrtes Abbild
steht oft neben ihrem verwüsteten, beim Opfern, unter dem Segen von Isis,
vor dem Thron. Zu gerne wüßte ich mehr über die beiden, aber
mein Baedecker faßt sich unbefriedigend kurz. Vielleicht sollte ich
doch zurück auf die Uni. Aber dort gibt es so viel zu lernen und so wenig
zu entdecken...