Freising.
Die Stadt atmet Geschichte. Und Landluft. Wenn man durch die kopfsteingepflasterten Straßen läuft, kann man vereinzelt Spuren von Pracht, Reichtum und Überlegenheit finden. Vereinzelt. Und nur, wenn man die Geschichte der Stadt kennt. Und beide Augen gegen die Provinzialität und den Dorfcharakter verschließt, die einem von überall entgegenschlagen. Die Cafés und Kneipen, in denen die Jugendlichen aus den umliegenden Dörfen versuchen, die Langeweile der Samstagabende mit Alkohol zu betäuben. Die biederen Einfamilienhäuser, die direkt hinter dem Stadtkern beginnen. Das Gefühl, dass jeder jeden kennen müßte, die mangelnde Anonymität und die fehlende Gleichgültigkeit. Nicht einmal ein wirklich unsicheres Bahnhofsviertel gibt es, obwohl Freising einen Bahnhof hat. Immerhin.
Und über allem... der Dom. Egal, wo in der Stadt man sich aufhält, von jedem Punkt aus sieht man die zwei wachsamen, mächtigen, altehrwürdigen Türme aufragen. Von meinem Fenster aus sieht man den Dom.
Ich schaudere, aber ich bleibe am Fenster stehen und starre weiter in die Dunkelheit. Als gäbe es etwas anderes zu sehen als diese Kirche. Als gäbe es irgendetwas Sehenswertes in meiner Welt.
Malekin.
Vergib mir Vater, ich habe gesündigt.
Ich habe gebeichtet, aber es gibt keine Vergebung für mich. Nur zwei Wege. Führt einer davon zur Erlösung?
Mein Blick fokussiert auf die Reflexion meines Gesichts in der dunklen Scheibe. Langsam sind die Wunden soweit verheilt, dass ich mich selbst wieder ansehen kann, ohne zurückzuschrecken. Zurück bleiben die Dinge, die ich sehe, wenn ich die Augen schließe. Vor denen es kein Zurückschrecken gibt. Nur Schrecken.
Durst. Wie jede Nacht seit... treibt mich das Verlangen nach Blut aus dem Haus, obwohl ich das Haus nicht verlassen will. Ich werfe mir ein Tuch über, so dass man mir sehr nah kommen muss, um meine Verletzungen zu bemerken, und laufe in Richtung Bahnhof. Um diese Zeit ist er menschenleer, die S-Bahn fährt nur noch alle 40 Minuten. Ich warte im Schatten, bis der erste späte Fahrgast eintrifft. Seine Karte stempelt. Sich frierend eine Zigarette anzündet. Mir den Rücken zukehrt.
Durst.
Zum ersten Mal bin ich wirklich auf der Jagd. Doch es ist nicht der Reiz des Jägerseins, die Spannung beim Aufspüren, Beobachten, Nachstellen, der psychosomatische Adrenalinstoß beim Zuschlagen, der mich antreibt. Nur Durst, hemmungsloser, schmerzvoller Durst.
Ich trinke, schnell, gierig, lange. Und ich kann aufhören. Jederzeit. Sofort. Ich muss nur aufblicken zu den wachsamen Türmen. Muss mir nur das Feuer auf meiner Zunge ins Gedächtnis rufen, den beissenden Geschmack, den Schmerz. Dies ist der Leib Christi, dessen Blut... Und aus. Ich muss mich zusammenreissen, um nicht auszuspucken, was ich meinem Opfer gerade noch gierig entrissen habe. Ziehe mich zurück in die Schatten. Warte bis die S-Bahn den müden, benommenen Menschen und alle anderen Wartenden vom Bahnsteig aufsaugt. Und warte auf die nächste S-Bahn. Auf den nächsten einsamen, späten Fahrgast.
Und dabei nehme ich meine Opfer kaum wahr. Ich rede mir ein, was ich tue, würde mich ablenken. Hoffe darauf, ihnen etwas von der Wärme, dem Leben, das in ihnen ist, stehlen zu können. Doch in Wahrheit ist dieses erbärmliche Spiel das einzige, was mich auf den Beinen hält. Mich heilt. Im physischen Sinne.
Der Dom blickt auf mich herunter, und lacht mich mit der tiefen, dumpfen Stimme seiner Glocken aus, und ich flüchte zurück in meine dunkle Wohnung.
Ich will kein Licht. Manchmal träume ich von einer Kerze, die an meinem Bett brennt. Doch die Erinnerung an diesen Traum ist fast noch unerträglicher als die Erinnerung an den, der mich jede Nacht heimsucht. Der jene Nacht immer und immer wieder geschehen lässt, ohne dass ich das erlösende Wort aussprechen kann. Denn ich bin Malekin.
Zweifel. Grausames, boshaftes, zwölfzüngiges Monster. Häßlichste Tochter der Königin. Du bist ebenso tot wie sie. Ich frage mich oft, ob diese Gelegenheit nicht der Weg gewesen wäre, den Malekin versprochen hat zu finden. Ich hätte es an diesem Abend nicht nur beenden können. Ich hätte die Chance gehabt, für meine Schuld zu büßen. Vergebung zu erlangen. Nicht von irgendeinem Gott. Nicht von Malekin. Aber der Priester hätte mir vergeben, das weiss ich. Und ist die Vergebung eines Menschen für ein menschenfressendes Ungeheuer nicht unschätzbar wertvoll?
Aufnahme

Entlassung