Ich fahre mir mit der Hand über die Augen, bevor ich daran denke, dass meine Verletzungen keineswegs verheilt sind. Nur der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen, nichts anderes. Schon gar nicht der Gedanke an Bruder Paulus. An den Ausdruck in seinen brechenden Augen, als erFURCHT neben mir starb.
Hätte ich an jenem Abend all unsere Probleme lösen können? Müssen? Doch die Frage ist Theorie. Ich hätte mich keinem anderen Engel weihen können. Ich weiss es, mit größerer Sicherheit als je zuvor. Ich bin Malekin.
Ich versuche, durch die spiegelnde Fensterscheibe hindurch zu erkennen, was dahinter liegt. Ich könnte versuchen, spazieren zu gehen. Ich könnte. Doch während es mir selbst in diesem angeschlagenen Zustand nicht besonders viel schwerer fällt, mich zu verdunkeln, hält mich etwas davon ab, den Ort aufzusuchen, der mich sonst immer so leicht gefunden hat, wenn alles um mich herum zu unerträglich wurde. Bedeutet das, dass ich mir selbst zu unerträglich geworden bin? Oder habe ich nur Angst, wohin mich meine Schritte führen würden? Was, wenn ich mich vor Malekins Haven wiederfände? Oder vor Annas Wohnung?
Was wenn ich die Augen schließe, eintauche in meine verborgene, wahrnehmungslose Welt jenseits von Atmung Blut und Schmerz, und sich dann vor meinem inneren Auge auf dem perfekten Weiss der Leere, die dort herrscht, ein roter Fleck ausbreitet, langsam wächst und Formen annimmt, die Form eines Kreuzes...
Ich schüttele den Kopf. Nicht wieder anfangen. Sperr dich nicht wieder selbst in einen Bannkreis. Die Träume sind genug.
Träume. Aus irgendeinem Grund muss ich an Thomas Kantner denken. Habe ich von ihm geträumt? Sein Brief hat mich sehr beunruhigt. Und mich mitten ins Herz getroffen. Ich würde ihm schrecklich gerne antworten, aber ich befürchte, dass ein Brief an ihn vielleicht in falsche Hände gerät. Wenn ich nur etwas für ihn tun könnte. Schon allein sein selbstloses Angebot - ist er mächtiger als ich dachte, oder hat unser Wahnsinn auf ihn übergegriffen, dass er solche Großzügigkeit wagen kann? - würde mich dazu verpflichten. Doch es ist mehr als Pflicht. Wenn ich irgendjemanden unter all den Raubtieren als Freund bezeichnen kann, dann Thomas. Wieder nehme ich mir vor, Josefa anzurufen, so wie jede Nacht. Vielleicht kann sie ihm helfen. Doch ich fürchte... dass meine Stimme zittern könnte. Dass ich kein Wort herausbringen würde. Seit dem letzten Treffen habe ich mit niemandem ein Wort gesprochen. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Stimme mir gehorchen würde.
Und ob ich nicht lieber sechs neun Jahre schweigen sollte, um meine sechs neun Brüder zu retten. Selbst wenn es mich mein Kind und mein eigenes Leben kosten kann.
Ich male mit dem Finger Muster auf die Scheibe. Es gelingt mir nicht, denn sie ist nicht beschlagen. Kein Atem, keine Wärme. Nicht mal fettige Finger. Wenigstens das Fensterputzen bleibt mir erspart. Ich muss an Annas Lachen denken, als ich ihr erzählte, dass selbst Vampire gelegentlich staubsaugen müssen. Wieder zersplittert mein gläsernes Herz in tausend Scherben. Und wieder greift der Durst nach mir. Sie war so wahnsinnig, mir nahe zu kommen, als die Wunden noch frisch waren. Viel zu nahe. So leicht hätte ich von ihr trinken können... Und niemals aufhören. Kein Gott des Universums hätte mich zum Aufhören bringen können.
Anna. Wie oft habe ich ihr gesagt, dass ich wünschte, ich hätte sie niemals angesprochen. Doch das ist eine Lüge. Es ist etwas, das ich dem Priester hätte sagen können. In seinem Schema von richtig und falsch wäre es eindeutig richtig gewesen, das als bereuenswerte Sünde zu beichten. Verführerische Schlange.
Doch ich weiss, dass es das einzig richtige war. So wie ich weiss, dass ich Malekin bin.
Ich weiss nicht einmal, wo sie wohnt. Clever von ihr, dem Prinzen zu erzählen, dass sie bei mir in Freising ist. Jeder, der uns zusammen gesehen hat, wird das sofort glauben. Sie hier suchen und auf ein Irrlicht stossen.
Was sie wohl gerade tut? Ich muss an Katinkas letzte Tage denken. An Sonnenbaden, Schönheitspflege und Knoblauch und Wein. Es ist schwer, mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sehr ich diese Dinge genossen habe. Ich vermisse sie nicht, aber es war wichtig, sie einmal, ein letztes Mal bewußt zu genießen. Genießt Anna ihr Leben gerade?
Hoffentlich passt sie auf sich auf. Nicht, dass nicht sowieso jede Menge Leute auf sie aufpassen. Aber sie wirkte so... zerrissen beim letzten Mal. Als könnte sie nicht mehr viel länger warten. Ich weiss, wie sie sich fühlt. Bald kommt der Zeitpunkt, wo auch sie alle Medikamente wegwirft, sich mit Benzin übergiesst, und sich eine Zigarette anzündet. Doch ich kann nichts tun. Ich weiss, wie sie sich fühlt.
Malekin.
Aufnahme

Entlassung