Samstag,
27.11.96, 4:38
Vampire! Ich kann es nicht glauben! Erst ein Dämon, und jetzt Vampire!
Kann das alles tatsächlich passiert sein? Wohl kaum. In Wirklichkeit liege
ich wahrscheinlich auf irgendeiner Intensivstation im Koma und bilde mir das
alles ein. Doch wen interessiert schon die Wirklichkeit!
Eigentlich hatte ich keinen besonders aufregenden Abend erwartet. Was lasse
ich mich auch von dieser hohlen neuen Kollegin aus der Buchhaltung zu einer
Nacht im Kunstpark überreden? Ich dachte, sie sucht vielleicht wirklich
Anschluß, weil sie neu in der Stadt ist, und fragt mich, weil ich eine
der jüngsten im Büro bin. Aber natürlich hat sie mich auf den
ersten Blick richtig eingeschätzt und sich von meiner Gesellschaft nicht
viel versprochen. Wie aufregend kann es schon sein, mit jemandem auszugehen,
der weder tanzen noch sich in der nötigen Lautstärke unterhalten kann,
noch die wichtigsten Gesprächsthemen für die moderne Frau von heute
(Männer, Diäten, Männer, Schlußverkauf, Männer) beherrscht.
Nein, wie so oft durfte ich wieder mal das klassische Date-Dummy spielen. Für
Männer gibt es nichts abschreckenderes als zwei Frauen auf einem Haufen,
die sich amüsieren, lachen, sich angeregt unterhalten und offensichtlich
auch ohne sie Spaß haben. Aber ein hübsches Mädchen in Begleitung
eines schweigenden Mauerblümchens, das sich diskret zurückzieht, wenn's
zur Sache gehen sollte, könnte attraktiver nicht wirken. Männer sind
komisch. Und Frauen unerträglich!
Gut, daß der Typ, der sie schließlich abgeschleppt hat, wenigstens
sein eigenes Auto dabei hatte. So mußte ich mir dieses gräßlich
banale Balz-Spiel nicht lange ansehen und konnte mich unauffällig davonschleichen.
Dabei hasse ich einsame Parkhäuser bei Nacht! Zu recht, wie sich herausgestellt
hat. Bis ich direkt vor dem Auto stand, habe ich nicht bemerkt, daß mir
jemand gefolgt ist, und dann war plötzlich dieser Mann hinter mir! Wahrscheinlich
habe ich vor Schreck einfach vergessen zu atmen, sonst hätte ich die Aufregung
ohne mein Spray sicher nicht überstanden. Und anstatt dann Geld oder schlimmeres
von mir zu verlangen, packt er mich und beißt mich! In den Hals! Wie im
Film!
Von da an war ich überzeugt, daß ich träume. Alles war plötzlich
völlig unwirklich. Aber ich brauche bloß in den Spiegel zu schauen,
ich brauche die Stelle an meinem Hals bloß berühren, um zu wissen,
daß ich unrecht hatte, daß ich mir nichts eingebildet habe. Morgen
werde ich einen Rollkragen in die Arbeit anziehen müssen.
Dabei
hat er gesagt, der Schmerz würde gleich nachlassen und ich würde mich
an nichts erinnern. Aber es tut immer noch weh. Und ich erinnere mich. In allen
irrealen Einzelheiten.
Stimmt nicht ganz. Ich weiß nicht mehr, wie ich die drei Schritte vom
Auto bis zum Fenster der Garage geschafft habe, und warum ich überhaupt
zum Fenster gegangen bin, um zu sehen, wo er hingeht. Ausgerechnet das Shockers!
Wo sollte ein Vampir sonst auch hingehen.
Das kann alles nicht sein! Ich bin von einem verrückten Junkie überfallen
und in den Hals gebissen worden! Ich werde gleich am Montag zum Arzt gehen und
mich auf AIDS und alle sonstigen ansteckenden Krankheiten untersuchen lassen.
Außer natürlich, ich zerfalle im Sonnenlicht zu Staub.
Samstag, 27.11.96,
15:20
Jetzt wird es wirklich unheimlich. Nein, stimmt eigentlich nicht, unheimlich
war schon die letzte Nacht. Aber jetzt beginne ich wirklich, an meinem Verstand
zu zweifeln. Seit einer halben Stunde stehe ich vor dem Spiegel und versuche,
irgendwelche Anzeichen einer Verletzung an meinem Hals zu entdecken. Keine
Spur! Habe ich mir das gestern Nacht wirklich alles nur eingebildet!? Eigentlich
nicht so abwegig. Aber es wirkte alles so... anders als sonst. Nicht so wie
früher, wenn ich einen meiner geistigen Spaziergänge unternommen
hatte (Seltsam. Meine Mutter hat diesen Ausdruck immer verwendet, wenn ich
mal wieder weggetreten war. Bis eben habe ich mich gar nicht mehr daran erinnert.
Ist ja auch schon lang nicht mehr passiert.)
Jetzt, am hellen Nachmittag, scheint die Erinnerung seltsam verschwommen und
undeutlich, als hätte ich zuviel getrunken. Natürlich war ich wie
immer viel zu vernünftig. Sonst läge ich längst schon wieder
im Krankenhaus. Verfluchte Medikamente!
Aber irgend etwas ist gestern geschehen. Wenn ich den Eintrag von heute morgen
lese, kann ich nicht glauben, daß ich mir das eingebildet haben soll.
Daß ich mich nicht an etwas erinnere, was geschehen ist, bin ich gewohnt.
Aber daß ich mich an etwas erinnere, was gar nicht passiert ist...?
Und doch... ich weiß kaum noch, wie der Mann überhaupt aussah.
Groß. Dunkle Haare. Locken? Ein dunkler Mantel... Je mehr ich mich zu
konzentrieren versuche, desto mehr weicht die Erinnerung vor mir zurück.