09.12.00
Es ist Zeit zu gehen, sagt Malekin.
Muß ich wirklich? Natürlich muß ich. Das ist es doch, worum
es eigentlich beim Vampirsein geht. Durch die Nacht schleichen, sich ein Opfer
suchen, es verfolgen, den richtigen Augenblick abwarten, die richtige Stelle
finden. Blut trinken. Jagd.
Das ist es, was ich lernen muß. Allein. Ohne Malekins Hilfe. Muß
ich wirklich?
Wenigstens bringe ich genug Selbstbeherrschung auf, um diese Frage nicht zu
stellen, auch wenn er sie wahrscheinlich in meinem Blick sieht. Aber ich werde
nicht aufgeben, bevor ich es überhaupt versucht habe. Ich werde ihn nicht
enttäuschen.
Ich trete auf die Straße, hinaus aus dem Eingang der geliehenen Wohnung
eines 'unserer' Patienten in St. Vitus. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht noch
mehr hinter unserem heutigen Ausflug nach München steckt. Mehr als die
Absicht, mich allein auf die Jagd zu schicken. Aber was immer Malekin vorhat,
es ist offenbar besser, wenn ich nicht dabei bin. Warum fällt es mir heute
so leicht, ihm zu vertrauen, mir keine Sorgen deswegen zu machen? Oder andersherum:
warum fiel es mir neulich auf dem Elysium so schwer? Allein der Gedanke an diesen
Ghoul versetzt mir einen Stich... und macht mich durstig.
Dummes Mädchen! Konzentriere dich auf deine Aufgabe.
Die Nacht ist mondhell und ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Trotzdem
sind nicht allzu viele Passanten unterwegs. Wo soll ich nur anfangen? Wie? Einfach
jemandem folgen, bis er zufällig in eine dunkle Seitengasse oder einen
unbeleuchteten Hauseingang einbiegt? Jemanden überfallen? Jemanden ansprechen,
nach der Uhrzeit fragen, um Hilfe bitten...? Keine besonders überzeugenden
Ideen.
Zunächst mal muß ich hier weg. Die Gegend ist viel zu hell und zu
offen. Ich laufe los. Ein Stadtpark vielleicht? Aber dort werde ich wohl jetzt
niemanden finden. Ein Parkhaus? Wo finde ich bloß um diese Zeit einen
einzelnen, nicht allzu starken, arglosen Menschen, der sich als Opfer eignet?
Einen Menschen, von dem ich trinken kann, ohne ihm ernsthaft zu schaden? Bei
dem ich nicht die Kontrolle verliere? Was fange ich nur an?
Nun ging das Mädchen immerzu, weit, weit, bis an der Welt Ende. Da kam
es zur Sonne; aber die war zu heiß und fürchterlich und fraß
die kleinen Kinder.
Eilig
lief das Mädchen weg und lief hin zum Mond, aber der war gar zu kalt und
auch grausig und bös, und als er das Kind bemerkte, sprach er: "Ich
rieche, rieche Menschenfleisch!" Da machte es sich geschwind fort und kam
zu den Sternen.
Sterne... Keine Sterne. Bunte blinkende Lichter, leises Summen, ein seltsam
vertrauter, leicht stechender Geruch... Träume ich? Wie bin ich nur hierher
gekommen? Warum um alles in der Welt bin ich ins Krankenhaus gegangen? Die Station
für Lungenkrankheiten. Ein Ort, den ich nie wiedersehen wollte. Und doch...
diese altbekannte Umgebung gibt mir ein seltsames Gefühl der Sicherheit.
Ich kenne die Funktion der meisten Apparaturen, die hier herumstehen, ich kenne
das Quietschen des Linoleumbodens unter meinen Sohlen, die schweren Zimmertüren,
den Geruch nach Desinfektionsmittel und Malventee, die Zeit, zu der die Nachtschwestern
Schichtwechsel haben... Bin ich zum Jagen hergekommen?
Ich muß völlig verrückt sein.
Ob mich jemand hereinkommen gesehen hat? Wohl kaum, die Besuchszeiten werden
hier streng gehandhabt, sie hätten mich nicht ohne gute Begründung
reingelassen. Irgendwann - bald! - sollte ich herausfinden, wie ich meine Fähigkeiten
bewußt einsetzen kann, anstatt mich auf den Zufall zu verlassen.
Also gut, hier bin ich. Was jetzt? Eine der Schwestern...? Schlechter Vorschlag.
Wenn jemand auf der Station Hilfe braucht, und keine Schwester auf sein Klingeln
reagiert, könnte das nicht nur denjenigen in Schwierigkeiten bringen, sondern
auch im Nachhinein ziemliches Aufsehen erregen.
Ein Patient also. Natürlich jemand, der nicht zu schwach ist. Oder infektiös.
Ich weiß nicht einmal, welche Krankheiten uns gefährlich sein können.
Warum zum Henker bin ich bloß ausgerechnet hierher gekommen?
Vorsichtig versuche ich eine der Zimmertüren. Gut, daß es hier einen
Trakt für Privatpatienten mit Einzelzimmern gibt. Dunkelheit. Leises monotones
Summen eines Monitors. Unter dem Klinikgeruch der leichte Duft nach Blumen und
etwas stärkeres. Warmes. Lebendiges. Ich kämpfe den Hunger nieder.
Nur nicht unvorsichtig werden jetzt. Leise schleiche ich mich ans Bett und versuche
mich nicht von dem rhythmischen, schwachen Atemgeräusch ablenken zu lassen,
das von dort zu hören ist.