Eine ältere Frau, bleich; obwohl sie schläft, sieht sie müde aus. Ansonsten wirkt sie nicht besonders krank. Kräftig gebaut. Gut genährt. Ob so ein bißchen Blutverlust ihr schaden würde? Wohl kaum. Ich kann ihren Herzschlag hören. Stark. Stark genug. Ich denke, ich werde -
Reiß dich zusammen! Dummes Mädchen! Hast du völlig den Verstand verloren? Klar doch, trink von dem erstbesten Menschen, den du findest, infiziere dich mit allen möglichen Krankheiten, verbreite sie weiter, wem schadet das schon? Das hat Malekin nicht gemeint, als er Katinka fragte, ob sie bereit sei, selbst zur Schwindsucht zu werden. Dummes Mädchen!
Der Gedanke an diese Nacht bringt meinen Hunger schlagartig zum Verstummen; ich kann wieder mit dem Kopf denken statt mit dem Magen. Denken...
Was hat Malekin damit gemeint? Bist Du bereit, anderen Menschen die Kraft und den Willen zu nehmen, bis sie dahinschwinden und zu Tode siechen? Bist Du bereit, ihnen anzutun, was Du erlitten hast, nur um Deine Existenz zu verlängern? Willst Du sie diesen Preis zahlen lassen, wenn Du doch nur ein erbärmliches und verfluchtes Unleben dafür erhältst?
Bin ich dazu wirklich bereit? Katinka hat nicht gezögert, das zu bejahen. Sie hat nicht geahnt, was diese Worte wirklich bedeuten. Sie kannte nicht den unheimlichen Reiz der Macht, die sie bekommen sollte, noch die unbezähmbare Gier nach mehr, die der Geschmack von heißem, lebendigem Blut auslöst, den überwältigenden Hunger, der einen nicht mehr aufhören läßt zu trinken, egal was für Konsequenzen das hat.
Und es wäre ihr egal gewesen. Sie hatte damals keine Angst, und sie hätte jetzt keine Angst. Die einzige Gier, die sie kannte, war die Gier danach, Malekin zu sein. Und Malekin ist was ich sein will. Was ich bin. Wenn die Jagd dazugehört, dann muß ich jagen. Dann werde ich es können.
Aber mit Bedacht, nicht einfach blindlings. Unsinnigerweise halte ich den Atem an, als ich mich ans Fußende des Bettes schleiche - gerade jetzt, wo ich mich langsam daran gewöhne, wieder zu atmen.
Das Krankenblatt. Komisch, ich habe so viel Zeit in Krankenhäusern verbracht, und bin doch nie auf die Idee gekommen, mir so ein Ding anzuschauen. Wäre sehr sinnvoll gewesen, dann würde ich mich jetzt auskennen.
Lauter kryptische Abkürzungen, verstümmeltes Latein und Griechisch und ein paar unleserliche Unterschriften. Das einzige, womit ich etwas anfangen kann, sind so nutzlose Sachen wie Temperatur und Stuhlgang. Einige der Worte klingen wie Namen von Krankheiten, aber ich kenne keines davon. Verflucht, wenn nur Malekin hier wäre!
Unschlüssig starre ich die Frau an. Sie sieht nicht wirklich krank aus. Aber kann ich sicher sein? Kann ich nicht. Das ist mir zu riskant. Es gibt noch genug andere Patienten hier. Einer davon wird eine Krankheit haben, die ich kenne und die ungefährlich genug ist. Schließlich habe ich die ganze Nacht Zeit.
Der dunkle Gang dehnt sich vor mir aus, unterbrochen nur durch zwei Teewägen an der Wand. Bei dem Gedanken an Malventee schüttelt es mich unwillkürlich, und das liegt nicht daran, daß ich ein Vampir bin. Erinnerungen an schlaflose Nächte. Wirkungslose Medikamente. Nicht atmen können. Verzweifeltes Auf- und Ablaufen, weil Liegen oder Sitzen keine Option ist. Der abstoßende Geruch von Malventee.
Ich stehe vor einer Tür. 114. Mein altes Zimmer. Sentimentales Ding!
Aber warum nicht. Ich trete ein, ziehe die Tür vorsichtig hinter mir ins Schloß und bleibe stehen. Desinfektionsmittel. Keine Blumen. Cortison. Schokolade. Blut. Wieder werde ich fast überwältigt von meinem Hunger. Das macht mir mehr Angst als das Risiko, entdeckt zu werden oder die Gefahr irgendeiner Ansteckung. Was, wenn ich mich nicht beherrschen kann, wie damals auf dem Infernal Desire? Was, wenn ich die Kontrolle verliere und mein Opfer bis zum letzten Tropfen austrinke? Wenn ich jemanden töte? Ist das die Lektion, um die es heute abend geht? Selbstbeherrschung?
Das Bett sieht auf den ersten Blick leer aus. Doch das liegt nur daran, daß der kleine Junge, der darin liegt, fast völlig unter der Bettdecke verschwunden ist. Kein Wunder, daß sein Atmen so angestrengt klingt, so kann er ja keine Luft bekommen.
Noch bevor ich das Krankenblatt in der Hand habe, ist mir klar, warum ich in diesem Zimmer bin. Asthma. Chronisch. Gerade 10 Jahre alt und schon so krank. Unwillkürlich beuge ich mich vor, um sein Gesicht besser sehen zu können - was suche ich?
Aufnahme

Entlassung