15.12.2001
Ich hasse zu spät
kommen! Doch das Wetter läßt es nicht zu, noch schneller zu fahren.
Der Schnee zeichnet alles weich, erstickt die Nacht mit seinem leuchtenden Weiß,
und gibt unter meinen Reifen nach, als ich die gewundene Straße den Berg
hinauf krieche. Oberst Schlayer hat uns hierher bestellt, und mit Bedacht einen
weit von München entfernten Ort gewählt. Warum? Damit wir alle zu
spät kommen?
Dabei sollte ich gerade heute pünktlich sein: ich muß mich um einen
Gast kümmern. Sie ist das Kind eines mit Malekin befreundeten Toreador,
der sie in die Münchner Gesellschaft einführen möchte. Bloß
hat er keine Zeit, das selbst zu tun, und deshalb wird mir diese Ehre zuteil.
Ich weiß noch nicht einmal ihren Namen! Aber das wäre alles kein
Problem gewesen, wenn ich nur pünktlich angekommen wäre. Verflucht.
Das Elysium ist bereits in vollem Gange. Wie haben die anderen das gemacht?
Sind sie geflogen? Hektisch sehe ich mich um. Da hinten in der Ecke, ein unbekanntes
Gesicht, schüchtern hinter der Bar versteckt und mit sorgenvollem Blick.
Das muß sie sein. Ich stelle mich vor, nehme sie - Eva-Maria - am Arm
und werde mit Fragen bombardiert. Sie muß ziemlich jung sein, und sie
weiß gar nichts. Na, das kann ja heiter werden. Ich bringe sie zu Schlayer,
der nach Velazquez' Weggang amtierender Prinzregent ist, und erledige die Vorstellungsformalitäten,
dann setzen wir uns, und sie fragt und fragt und fragt.
Mittlerweile habe ich genug Routine in diesen Dingen, um nicht mehr über
die Antworten nachdenken zu müssen. Während ich ihr alles, was Sie
schon immer über Vampirsein wissen wollten, aber nie zu fragen wagten,
erzähle, lasse ich meinen Blick über die Menge schweifen. Thomas ist
da - tut das gut, ihn lebendig zu sehen! In einer dunklen Ecke steht Christopher,
und die Düsternis, die ihn umgibt, überstrahlt alle Schatten um ihn
herum. Zu meiner Freude bemerke ich Vendariel, nicht in Begleitung von Gregorio,
der ja verbannt wurde, sondern, kaum besser, von McGarfield. Er scheint ihr
neuer Vormund zu sein, und sie wirkt glücklicher damit. Ich sollte mir
Sorgen um sie machen, doch zunächst muß ich mich um mein eigenes
Mündel kümmern. Ich antworte weiter auf ihre Fragen, während
ich geistesabwesend ein paar neue Gesichter registriere - eine Frau in klassischem
Brujah-Outfit, die englisch spricht, ein leicht nach Punk aussehender Junge,
der sein Alter nur durch seine Augen verrät, aber keineswegs durch sein
Verhalten, und ein ganz in
schwarz
gekleideter Beduine, der trotz seines Gewands so wirkt, als wäre er völlig
hier zu hause.
Auch Herr Vanderbilt ist gekommen, und einen Moment lang bin ich in nostalgischen
Erinnerungen gefangen. Ich muß ihn unbedingt fragen, ob er etwas von der
Gräfin gehört hat. Doch der Moment dauert nur kurz: in einer anderen
Ecke bricht Tumult aus. Dort steht neben einigen anderen Kainiten Josefa, und
beugt sich über - Anna!
Was tut Anna Toth hier? Wie konnte sie von dem Elysium wissen? Hat jemand sie
mitgebracht? Ich entschuldige mich hastig bei Eva-Maria und laufe zu ihnen.
Josefa ist aufgebracht. Sie sagt, ich sei verantwortlich dafür, daß
Anna hier sei, und daß beinahe ein Unglück geschehen wäre, wenn
sie nicht eingeschritten wäre, und daß ich mich um Anna kümmern
sollte, sonst würde sie das Elysium nicht lebend verlassen. Anna wirkt
ruhig - zu ruhig. Josefa hat sie auf ihre Weise beruhigt, doch unter der Oberfläche
sehe ich kochenden Zorn darüber, daß sie nicht mehr Herr ihrer eigenen
Handlungen ist. Ich kannte ihre Vorfahren nicht, doch sie müssen genauso
gewesen sein. Armes, starkes Waisenkind, was soll nur mit dir werden?
Jetzt habe ich also zwei Schutzbefohlene, und der Abend könnte lang werden,
denn für später hat sich Besuch aus Innsbruck angekündigt.
Ich spreche wieder mit Oberst Schlayer und sichere ihm zu, die volle Verantwortung
dafür zu übernehmen, daß Anna die Maskerade wahrt. Er gibt sich
damit zufrieden, doch irgendetwas an der Art, wie er eine Augenbraue hochzieht,
als er mich ansieht, verheißt nichts Gutes.
Umso dankbarer bin ich, als Lyra sich zu uns gesellt und mir verspricht, ein
Auge auf Anna zu haben, während ich das 20-questions-Spiel mit Eva-Maria
von neuem beginne. Doch wir kommen nicht weit, denn Josefa - immer noch aufgebracht
- will mit mir sprechen. Sie ist in Begleitung eines Herrn Dufraisse, der sich
als ihr Bruder vorstellt! Wie schön, vielleicht weiß er etwas über
den Verbleib ihres Sire, den sie doch so verzweifelt sucht, will ich sagen,
doch ihr Blick läßt mich schweigen. Offenbar ist sie alles andere
als erfreut über dieses neue Familienmitglied, sie glaubt ihm nicht einmal,
daß er ihr Bruder ist.