Samstag, 30.12.2000, 17:35

Es schneit. Frau Holle schüttelt ihre Kissen. Der Himmel ist noch hell, die Wolken fangen das letzte Licht des schwindenden Tages ein und der Schnee wirft es zurück. Die Sonne ist untergegangen, und doch schmerzt es, den Blick zum Himmel zu heben. Der vorletzte Tag dieses Jahrhunderts. Oder wird es der letzte sein?

Malekin ist fort. Malfeis erwartet ihn, und wenn ein Ahn einen erwartet, sollte man besser pünktlich sein. Mehr als bloße Etikette. Überlebensregel?
Ich versuche mich zu erinnern, was ich geträumt habe. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob man als Vampir überhaupt träumen kann. Jedenfalls nicht so wie ein Lebender. Aber manchmal, wenn ich aufwache, habe ich Bilder vor meinem inneren Auge, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen. Es fühlt sich anders an als Träume, eher wie Déjà-vus, aber ich sehe sie gerne als Träume an.
Heute sehe ich...
St. Vitus. Die Klause. Nicht so wie sie heute ist, modern und hell und sauber. So wie sie früher gewesen sein muß. Düster. Kühl selbst in den schwülsten Sommernächten. Feuchte Mauern, unverputzt, voller Flecken - Blut? Gestank. Primitive Lager am Boden. Überfüllte Räume. Stöhnen. Leere Blicke. Hoffnungslos jenseits jeder Erinnerung an Hoffnung. Leises, unterdrücktes Schluchzen, wie immer aus der selben Ecke. Die sonoren Stimmen der Brüder beim Abendgebet. Der Mann, der langsam, träumerisch, leidenschaftslos immer wieder seinen Kopf gegen die Wand schlägt. Ich könnte ihn abhalten, aber ich möchte ihn in seiner Routine nicht stören. Gerade jetzt nicht, wo alles so friedlich ist. Zu hause.
Ich schüttle das Bild ab. Was hat das zu bedeuten? Habe ich diesen Traum durch die Augen von Malekins Sire gesehen? Angst greift nach mir, obwohl ich nicht weiß warum.
Draußen stob der Schnee, und die Flocken wirbelten vor den Fenstern. "Das sind die weißen Bienen, die schwärmen", sagte die Großmutter.
"Haben sie auch eine Königin?" fragte der kleine Knabe.
"Freilich haben sie eine", sagte die Großmutter, "gib nur acht, sie fliegt dort, wo die Flocken am dichtesten schwärmen. Sie ist die größte von allen und bleibt nie still auf der Erde liegen; sie fliegt wieder zu den schwarzen Wolken hinauf.

Manche Nacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und diese frieren dann so sonderbar zu, daß es wie Blumen aussieht."
Was starrt da zurück, wenn ich aus dem Fenster schaue? Ist es der helle Schnee, der mich so unruhig macht?
Wohl eher der Gedanke an heute nacht.
Der Sabbat. Malekin hat mir von ihnen erzählt. Sie denken, sie sind die Krone der Schöpfung. Oder der Evolution. Falls es da einen Unterschied gibt. Kann ich sie dafür wirklich verurteilen? Denken die meisten Menschen nicht genau dasselbe von sich selbst? Und ihre gemeinsame Ideologie scheint sie enger zusammenzuhalten als die Camarilla. Andererseits ist es vielleicht doch eher eine Religion, denn sie belügen sich selbst. Wären sie den Menschen überlegen, der natürliche Freßfeind, dann müßten sie sich nicht an die Maskerade halten. Und das tun sie, wenn auch bestimmt nicht im Camarilla-Sinne des Wortes, denn sonst wüßte die Welt längst, daß es Vampire gibt. Und hätte uns längst ausgerottet, denn die Hälfte unserer Zeit sind wir hilflos und so leicht zu vernichten. Krone der Schöpfung.
Doch ihr Glaube an ihre Überlegenheit macht sie gefährlicher als jeder Camarilla-Vampir es je sein könnte.
Alles, was uns motiviert, ist die Drohung der Ahnen. Wir kämpfen nicht für eine höhere Sache. Jeder will nur seine eigene Haut retten. Der Sabbat muß nur überleben, um uns zu besiegen. Wir müssen sie besiegen, um zu überleben. Was für ein ungleicher Kampf.
Ich glaube nicht, daß mir einer der anderen Vampire heute nacht helfen wird, wenn ich in Schwierigkeiten gerate. Thomas Giovanni vielleicht. Und Christopher und Krell wahrscheinlich. Josefa wird vermutlich genug damit zu tun haben, selbst zu überleben. Wenn sie den Termin heute abend nicht ganz vergißt.
Ob es klug war, ihnen zu sagen, daß ich mich verdunkeln kann? Malekin sagt, das verstößt gegen Regel Nummer 1. Aber er sagt auch, daß ich gut darin bin, diese Fähigkeit einzusetzen. Und ich weiß, daß diese Fähigkeit gut darin ist, mir Streiche zu spielen. Wenn ich zu gut bin, wird sich vielleicht keiner der anderen erinnern, daß ich da war. Und das könnte unangenehme Folgen haben.
Aufnahme

Entlassung