Freitag,
25.02.97, 7:52
Das Warten hat ein Ende. Nicht heute. Bald.
Chaos und Zerstörung überall um mich herum. Ich darf meinen Stuhl
keinen Zentimeter zurückschieben, wenn ich nicht noch mehr kaputtmachen
will. Doch warum sollte ich mich von meinem Computer lösen wollen, wenn
er doch eine Nachricht von Malekin enthält.
Er hat mein Tagebuch gelesen! Bei dem Gedanken zieht sich mein Magen zusammen
und ich bekomme keine Luft mehr. Noch weniger als sonst. Ich fühle mich
wieder wie damals, als Teenager... Mein Tagebuch, mein privatester Besitz, mein
Innerstes! Ich kann nicht sagen, daß ich das nicht gewollt hätte.
Wenn er mich darum gebeten hätte, hätte ich es ihm wahrscheinlich
sogar gezeigt. Daß er es sich einfach so genommen hat ist zugleich demütigend
und schmeichelhaft. Genau wie damals... Was mußte ich auch das Password
in Schneewittchen' ändern! Es hat ihn bestimmt keine Minute gekostet,
darauf zu kommen.
Er hat mir Blut abgenommen! Wozu? Unsinnige Frage. Wozu braucht ein Vampir wohl
Blut. Aber wieso hat er es sich auf eine so konventionelle Weise genommen? Ich
konnte keine Bißspuren an mir entdecken, weder am Hals noch sonstwo. Nur
der blaue Fleck am Arm, der mir fast gar nicht aufgefallen wäre, weil ich
es schon so gewohnt bin. Was tut er mit meinem Blut, wenn er es nicht trinkt?
Warum ist er hergekommen? Was hat er hier getan? Ich versuche ein Muster in
dem Chaos, das er hinterlassen hat, zu entdecken, aber immer, wenn ich kurz
davor bin, seine Bedeutung zu begreifen, verschwimmt alles vor meinen Augen
und ich muß mich mit beiden Händen am Tisch festhalten, bis das Schwindelgefühl
vorbeigeht. Er kann mir nicht viel Blut abgenommen haben, aber mein Kreislauf
reagiert schon auf geringen Blutverlust sehr empfindlich. Aber no way! Ich werde
mich jetzt nicht wieder ins Bett legen!
Er hat mir sein Tagebuch dagelassen! (Zumindest das ist anders als damals -
ich bekomme eine Gegenleistung.) Was für ein Tagebuch! Er schreibt, er
kann nicht sagen, was davon Wahrheit und was Lüge ist, doch ich glaube
jedes Wort bedingungslos. Wahnsinn!
Wie langweilig muß ihm meines im Vergleich dazu erscheinen. Aber wäre
er hergekommen, wenn ich nicht irgendwie interessant für ihn wäre?
Dieser Gedanke läßt eigentlich nur einen Schluß zu:
Das
alles ist nur ein Spiel, ein grausamer Scherz, eine kurzzeitige Unterbrechung
der Langeweile, die jemand empfinden muß, der die Ewigkeit zur Verfügung
hat.
Und doch mache ich mir etwas vor, lese einzelne Passagen seines Tagebuches immer
wieder und vergleiche sie mit meinen Eintragungen, oder vielmehr mit dem, was
ich nicht aufgeschrieben habe, und was trotzdem übereinstimmt. Wie kann
er von den verstörenden Träumen der letzten Nacht wissen? (Warum habe
ich von diesem Ring geträumt, den ich als Kind mal hatte?) Woher weiß
er so genau, was ich neulich eingekauft habe? War er tatsächlich an dem
Abend hier, als ich den Notarzt gerufen hatte? Der Gedanke ist seltsam tröstlich.
Ich habe es immer gehaßt, wenn sie alle um mein Bett herum gestanden sind
und sich besorgt über mich gebeugt haben und mich anfassen und festhalten
wollten. Können sie für mich atmen? Nein. Warum also lassen sie mich
nicht alleine, bis ich es wieder selbst kann, anstatt mir die Luft um mich herum
wegzunehmen?
Doch die Vorstellung, daß jemand neben meinem Bett sitzt, ohne daß
ich überhaupt etwas davon bemerke, daß er mit dem Arzt spricht, daß
er das Geheimnis meiner Krankheit mit mir teilt und es für mich hütet...
Das ist unerträglich schön.
Wie oft war er schon hier, ohne daß ich es bemerkt habe? Wie konnte er
überhaupt in die Wohnung kommen? Die Türe ist noch völlig heil
- im Gegensatz zu allem anderen. Aber der Gedanke, daß Vampire sich tatsächlich
in Nebel verwandeln und durch jede noch so kleine Ritze kommen können,
erscheint mir schon sehr abwegig. Nicht ganz unmöglich, aber doch unwahrscheinlich.
Hah! Dummkopf! Ich selbst habe ihm meinen Schlüssel gegeben. Ziemlich naiv,
anzunehmen, daß er ihn nicht hätte nachmachen lassen können.
Immerhin gibt es in meinem Badezimmer genug Dinge, mit denen man einen Abdruck
eines Schlüssels nehmen könnte.
Doch das sind alles unwesentliche Details. Das wichtigste ist, daß ich
nur noch eine Woche warten muß. Nächsten Freitag...
Zeit und Ort findest Du in Deinen Gedanken.
In meinen Gedanken finde ich alles und gar nichts! Viel zu viele verwirrende
Dinge, aber keine Antworten. Die Zeit ist kein so großes Problem.