Thomas Kantner begrüßt uns, er würde gerne mit uns sprechen, doch momentan hat er noch Geschäfte zu erledigen. Ich hätte ihn selbst gefragt, denn es gibt so viele offene Dinge. Das Ritual als etwas aus dem Dunkel kam und mir seine Blutzähne in den Hals grub, tief, tief in den Hals wie schon vor langer Zeit die Klauen und nur ein Schluß bleibt übrig nur ein einziger und was an jenem Abend geschah. Der Abend, als wir die Ghoule getötet haben und er fast vernichtet worden wäre. Die seltsame Veränderung, die beide Male mit ihm vorging, und die Josefa als Antonio bezeichnete. Malekin hat mir erzählt, daß es früher in München einen Don Antonio Giovanni gab. Ein Vorfahr von Thomas? Was flüstern ihm seine Krähen zu? Welches Bild werfen seine Spiegelscherben zurück? Und ist Antonio so zärtlich zu seinem Geist wie Malekin zu meinem?
Vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Ob hier der richtige Ort ist, um darüber zu sprechen?
Inzwischen nutze ich die Zeit, um Konversation zu treiben. Ich versuche, eine Innsbrucker Tremere namens Nofretete - sie wirkt gar nicht ägyptisch - ein paar Münchnern vorzustellen. Was nicht einfach ist, denn sie will mir ihren Status nicht verraten. Das macht die ganze Sache wirklich schwierig, denn wie soll ich dann wissen, wie ich sie ansprechen darf? 'Eine einfache Verbeugung genügt', wird mir mitgeteilt. Ich übergehe das mit einem Lachen (und einer einfachen Verbeugung) und stelle Herrn Dufraisse vor, dessen Status fast genauso schwer zu bestimmen ist, nur daß er es mit mehr Humor nimmt. Das ist offenbar unter dem Niveau der ägyptischen Königin, sie verläßt uns. Ich habe ihr unrecht getan, ihr Blick ist ebenso leer wie der der hübschen Statue in dem Berliner Museum. Ist sie genauso tot wie deren Vorbild?
Und auch Herrn Dufraisse habe ich unrecht getan. Doch er scheint es mir nicht krumm zu nehmen. Wir unterhalten uns über Träume, und er hört aufmerksam und gar nicht abweisend zu, während Anna von ihren Träumen erzählt. Beunruhigend. Verstörend. Beängstigend, wenn man bedenkt, daß sie von unseren Wachträumen spricht. Von ihrem Spiegelbild, das sich verändert, wenn sie es nur lange genug anstarrt. Da ist sie wieder, die Stimme in meinem Kopf, die sagt 'Ich will sie haben!'. Doch es ist unmöglich, ich bin eine Rabenmutter. Wird sie in einem Turm enden wie Rapunzel? Oder kann mir ein Betrug gelingen wie der schönen Müllerstochter, die kein Stroh zu Gold spinnen konnte?
In diesem Moment trifft der moribunde Prinz von Tirol ein, Dr. Steiner. Wir sinken in die Knie, ausnahmslos. Anna wird von den umstehenden einfach mit nach unten gezogen, und wir verharren, bis die herablassende Begrüßung des Prinzen uns erlöst. Anna sieht verärgert aus, sie wollte sich nicht so tief verbeugen. Stolz ist doch etwas seltsames. Welchen Sinn hat dieses zornige Gefühl, das uns dazu bringt, unsere Sicherheit, unsere Beziehung zu anderen, Glück, Erfolg und sogar das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, nur um dieses imaginäre Gebilde zu schützen, das wir Selbstwert nennen. Christopher hat recht. Das ist nicht wichtig.
Doch ich sollte nicht darüber spotten, denn ich fühle selbst nicht anders. Derselbe Zorn flammt in mir auf, als Malekin mir erzählt, daß Lasalle ihn aufgefordert hat, das Problem Anna Toth binnen einer Woche aus der Welt zu schaffen. 'Problem Anna Toth?' Sie ist ein lebendes, denkendes, fühlendes Wesen! Auch wenn Lasalle die beiden letzten Adjektive nicht mehr viel sagen dürften. Der erste vielleicht auch nicht. 'Aus der Welt schaffen?' Ist das die einzige Lösung für alles? Töten, weil man zu phantasielos und zu faul ist, über andere Wege nachzudenken? 'Aufgefordert?' Wer ist er, uns zu etwas aufzufordern? Der Sheriff und sein ehemaliger Prinz schulden mir noch die Leben zweier Ghoule! Malekin hält mich zurück.
Wenn er dich anspricht, wirst du ruhig bleiben. Du wirst dich zu keiner Reaktion hinreißen lassen, und nichts ungehöriges tun. Doch du wirst alles tun, um ihn zu einem Bruch des Elysiums zu provozieren. Dann kann ich agieren.
Allein die Vorstellung beruhigt mich. Hoffentlich spricht Lasalle mich an. Das wird ein köstlicher Spaß, wenn es gelingt!
Malekin unterhält sich mit Herrn Kramer, einem neu in München eingetroffenen Nosferatu. Er hat sich keine Mühe gegeben, sein entstelltes Gesicht zu verbergen. Doch seine Hände sind bandagiert. Können sie noch schlimmer aussehen als seine verwüstete Haut?
Achte immer auf deinen Rücken, oder sorge dafür, daß jemand da ist, der es für dich tut. Diese Lektion des Infernal Desire ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben (was für einen Einfluß doch die Umgebung auf den Lernerfolg haben kann), deswegen bemerke ich Christopher, kurz bevor er direkt hinter Malekin steht.
Aufnahme

Entlassung