Sie macht noch einen Schritt in die Richtung, in die sie gerade gehen wollte.Die Teile ihres Verstandes, die begreifen könnten, daß sie nicht mehr gehen kann, sind schon ausgeschaltet. Ihre Augen sind immer noch offen, der Blick völlig nach innen gekehrt, ich fühle mich hineingezogen wie in einen Strudel. Ihre Beine geben nach und gerade noch rechtzeitig fängt ein Mann sie auf, der offenbar zufällig daneben stand. Er trägt sie hinaus. Die Arme! Die Peinlichkeit, in den Armen eines völlig Fremden aufzuwachen, nicht zu wissen, wo man ist, die unnötige Besorgnis in den Gesichtern der Umstehenden ist mir allzu vertraut. Und gleichzeitig beneide ich sie. Dieser Blick! Ich würde zu gern sehen, was ihre Augen gerade gesehen haben.
Bei der Vorstellung halte ich es auf einmal nicht mehr in dem überfüllten Tempel aus. Es gibt in diesen Bauten einfach zu wenig Luft, wie haben die Priester das früher bloß durchgestanden? Und dieser lästige Husten macht alles noch viel schlimmer. Ich habe das Gefühl, nur noch Staub zu atmen. Ich freue mich schon richtig auf den Smog in Kairo.

Zurück in Kairo.
Ein letzter kurzer Tag in dieser wildwuchernden Stadt. Muhammed-Ali-Straße und Seitenstraßen. Ein Markt, nicht für Touristen, sondern ein richtiger, für Einheimische. Keine Skarabäen, keine falschen Bauchtanzkostüme, kein gefälschter Safran. Statt dessen Säcke voller Schafwolle, billiges Plastikgeschirr, fleckiges Obst und Gemüse, Fisch, Gebäck... Und Schmutz. Lärm. Gestank. Fliegen. Realität.
Mopeds, Eselskarren und Pferdewagen kommen in den engen Gassen kaum gegen die Masse von Fußgängern an. Jemand balanciert eine mannshohe Spanholzplatte zwischen Einkäufern und Händlern hindurch, ein paar Schulkinder rufen beim Anblick unserer hellen Haut ‚Hello!' und freuen sich über unsere Antwort, ohne daß wir ihnen Süßigkeiten oder Kugelschreiber schenken. Die ausgelegten Waren sind z.T. völlig unidentifizierbar, genauso wie die meisten Gerüche. Brennendes Holz. Pferdeäpfel. Falafel. Tabak. Süßlicher Verwesungsgeruch vor den Metzgereien, beißender Fischgestank an den Fischständen. Schweiß und Parfum. Eine berauschende Mischung. Und trotz meiner hartnäckigen Erkältung extrem intensiv riechbar. Ägypten! Die Leute lachen, wenn sie uns sehen, und es wirkt ehrlich. Fröhlich. Spöttisch. Ein paar Männer rufen mir über ihre Marktstände hinweg eindeutige Angebote nach.

(‚How many camels for you?'). Und immer wieder Schulkinder, die ihr Englisch testen wollen. So viel Leben!
Die Gasse wird immer enger, die Häuser neigen sich wie Bäume zueinander, lassen kaum noch Licht durch. An der engsten Stelle werden die oberen Geschosse durch ein Gerüst abgestützt, obwohl Gerüst für diese abenteuerliche Konstruktion kaum das passende Wort ist. Und abgestützt vielleicht auch nicht.
Wir landen in einem Kushary-Laden, wo außer uns nur Einheimische sind. Endlich richtig ägypisches Essen. Kushary - gemischtes Allerlei aus Nudeln, Reis, Erbsen, Linsen, Zwiebeln und einigen unidentifiziebaren Zutaten.
Einen Tisch weiter sitzt ein Mädchen, höchstens 16, mit seiner Mutter. Eine hinreißende Mischung aus Schüchternheit und überschäumendem Übermut. Das Kopftuch bedeckt nur ihre Haare und rahmt ihr weiches, ebenmäßiges Gesicht streng ein.
Wenn sie ganz erwachsen ist, wird sie eine richtige Schönheit sein. Oder ziemlich langweilig aussehen. Sie lacht zu mir herüber und ich lache zurück, was mit vollem Mund gar nicht so einfach ist. Verflixter Husten!
Sie sagt etwas zu ihrer Mutter, schaut wieder her, lacht - und wirft mir einen Kuß zu! Etwas verlegen schaue ich mich um, aber kein Zweifel, sie meint mich. Noch ein Luftkuß. Was will sie? Jetzt schaut auch die Mutter her und lächelt. Kinder! Sagt ihr Blick. Kurzentschlossen stehe ich auf und setze mich zu den beiden, neben das Mädchen. Wenn sie so direkt ist, passe ich mich eben an, gebe ihr die Hand - erstauntes Zögern, dann nimmt sie sie schüchtern - und stelle mich auf Englisch vor. Mit etwas Dolmetschen von der Mutter kommt Verständigung zustande. Sie heißt Ira, lacht die ganze Zeit und kann kaum mehr als drei Worte Englisch. Die Mutter nur geringfügig mehr, aber das reicht. Ich bin wahrscheinlich die erste Europäerin, mit der sie spricht. I very happy see you. Sie lädt mich in ihr Dorf ein. Wenn ich nicht heute abfliegen würde, würde ich alles stehen und liegen lassen und sofort mitkommen. Verflucht!
Wir sprechen miteinander, sie arabisch, ich englisch, verstehen beide kein Wort und haben jede Menge Spaß. Jedesmal, wenn ich huste, zieht sie die Augenbrauen zusammen und schüttelt den Kopf wie eine strenge Mutter. Ist Husten hier was unanständiges?

Aufnahme

Entlassung