Ich bekomme Leonardos Frage nur halb mit. Will er wissen, warum ich Vampir werden will? Nein, meine Krankheit ist nur der Anlaß. Der Grund ist dieses Bild. Tessa und Leonardo sind weit weg, die Stimmen der anderen werden leiser... Ich bekomme keine Luft. Das ist kein normaler Anfall. Etwas stimmt nicht. Ich habe keine Orientierung, keinen Gleichgewichtssinn mehr, keine Lungen mehr zum Atmen. Wo ist mein Spray? Und was muß ich damit tun? Ist es nötig zu atmen? Kann ich nicht mal eine Pause machen?
Tessa hat das Spray aus meiner Tasche gefischt. Alle stehen um mich herum, während ich mir die Seele aus dem Leib huste. Irgendetwas ist falsch, das kam viel zu plötzlich. Liegt es daran, daß ich meine Medizin nicht genommen habe? Wo ist Leonardo hin? Tessa faucht, als ich seinen Namen sage. Hatte er etwas mit diesem Anfall zu tun? Ein gutes hat die Sache: zumindest kurzzeitig habe ich Malekins Aufmerksamkeit. Er nimmt mir Blut ab. Wie in meiner Wohnung in der Nacht, als er mich besucht hat. Warum muß mir gerade jetzt das Sprechen so schwer fallen?
Thomas ist wieder da, auch er versucht es jetzt mit einem Vier-Augen-Gespräch in der dunklen Ecke. Einfallslosigkeit kann man ihm nicht vorwerfen. Malekin sagt, alle hier sind ein Teil von ihm. Also ist es völlig egal, wer von ihnen mich zum Vampir macht. Und es kann auf keinen Fall schaden, etwas von seinem Blut zu trinken. Völlig logische Argumentation. Jetzt, wo er so dicht vor mir steht, erinnere ich mich sehr intensiv an das erste Mal, als ich Vampirblut getrunken habe, sein Blut. Es hat so gut getan! Es war so einfach zu atmen, es hat nicht mehr weh getan, und ich fühlte mich die ganze Nacht lang so wach, so lebendig... Kann ein bißchen Blut wirklich so schlimm sein? Ich könnte mein Spray vergessen, wäre viel besser in der Lage zu lernen, was es zu lernen gibt, müßte mich nicht dauernd an Wänden und Türstöcken festhalten und mich alle 10 Minuten setzen...
Kein Blut, keine Beeinflussung. Das sind Malekins Regeln. Habe ich mehr Chancen, wenn ich sie beachte, oder wenn ich sie breche? Ich muß nachdenken und flüchte dazu um die Ecke. Die ganze Wand hängt voller Rorschach-Bilder. Jedes einzelne zeigt die kaputten Flügel meiner Lunge. Thomas lacht darüber, das ist verrückt, wer soll das verstehen? Es geht nicht ums Verstehen. Es ist wie ein Gedicht in einer fremden Sprache. Man muß nicht wissen, was es bedeutet, um zu wissen, daß es schön ist. Er will, daß ich es ihm vorlese. Als hätte er mir gar nicht zugehört.

Die Malkavianerin kommt auf mich zu. Soll ich wirklich in dieses Zimmer? Keiner der anderen Vampire widerspricht, sie sehen mich nur neugierig an. Ich lasse mich am Arm nehmen und in den dunklen Raum führen, in dem es riecht wie in einem Raubtierkäfig. Sie drückt mir eine Taschenlampe in die Hand. Die zwei Schläferinnen sind da, die eine im Sessel sitzend mit einem Skelett im Arm - was tut sie da? Schlimmes Mädchen! - die andere auf dem Sofa gefesselt, fast nackt, blutüberströmt. Ich muß mich abwenden, nur um noch schlimmeres zu sehen. Die Bilder an der Wand sind verstörend, beängstigend, hoffnungslos. Ich will nicht fragen, aber ich muß, und sie hört nicht auf, mir jede Einzelheit zu erklären. Dann nimmt sie mich bei der Hand und führt mich zu der Frau auf dem Sofa, läßt mich vor ihr niederknien, läßt mich ihre Haut berühren, ihr heftig schlagendes Herz fühlen, ihre Lust am getrunken werden. Das ist unser Schicksal, sagt sie. Tu's nicht!
Ich will hier raus, ich lasse die Taschenlampe fallen und flüchte.

Malekin steht vor der Tür - hat er gelauscht? - und ich würde ihm am liebsten um den Hals fallen. Aber ich brauche beide Hände, um die Tür hinter mir zuzuhalten, nur für den Fall, daß die Lektion noch nicht beendet ist.
"Ich habe Angst!" spricht Malekin meine Gedanken aus.
Er will wissen, was da drinnen geschehen ist, aber ich kann es ihm nicht sagen.
Sein Gedicht aus Tintenklecksen, das hinter ihm an der Wand hängt, beruhigt mich etwas. Ich will ihm sagen, wie schön ich es finde, aber er reißt eines der Bilder ab, zerknüllt es, läßt es fallen. Es ist nicht wichtig. Das tut weh!
Thomas unterbricht uns, offenbar fürchtet er, das Spiel zu verlieren. Strategiewechsel: Er fragt Malekin, was er an der kleinen Schwindsüchtigen bloß so interessant findet. Völlig falscher Ansatz. Er spricht in meiner Gegenwart schlecht von mir, und gibt seinem Konkurrenten (?) gleichzeitig Gelegenheit, es besser zu machen. Oder viel schlimmer.
Einen Wimpernschlag lang sehe ich Malekin vor meinem inneren Auge, wie er die Achseln zuckt und ein erstauntes ‚Nichts' antwortet.

Aufnahme

Entlassung