10.11.2001
Schnee. Wieder schneit
es, wie an jenem Silvesterabend vor einem Jahr. Wieder hüllt Frau
Holle die Welt in unschuldiges Weiß und verbirgt ihre wahre Natur.
Wieder wird Blut den Schnee rot färben und die schwarze Nacht wird in unserem
Mündungsfeuer zum Inferno werden. Lasciate ogni speranza voi ch'entrate,
nein? Ich war gewarnt, doch wollte ich hören? Will ich es jetzt?
Der Prinz hat gerufen, also muß Malekin folgen. Ich bin viel zu früh
am Treffpunkt, beobachte aus meiner Dunkelheit heraus, wie sich die Kainiten
sammeln. Vereint in der Gefahr? Sie sind ungewöhnlich schweigsam, die Stimmung
ist ebenso gedämpft wie das Geräusch ihrer Schritte im Schnee. Die
blutgierige Aufregung vor der Sabbatschlacht ist der routinierten Vorbereitung
des Menschenschlachtens gewichen.
Denn das ist es, wozu wir heute abend hier sind. Lasalle oder irgendjemand anders
hat das Versteck der freien Ghoule ausfindig gemacht, und wir wollen diesen
Vorteil zum Überraschungsschlag nutzen. 'Wir'. 'Wollen'!
Von Wollen kann keine Rede sein. Jedenfalls bei mir nicht. Ich sehe es ein,
sie bedrohen uns, das heißt, wir müssen etwas unternehmen. Heißt
unternehmen gleich töten? Sind wir so ohnmächtig, daß wir keine
anderen Mittel haben, uns zu verteidigen?
Der Prinz erhebt die Stimme, sie erklärt uns das Ziel des Abends. Wir werden
die Ghoule besiegen. Sie spricht nicht von Töten. Hoffnung...? Lasalle
liefert uns einige wenige Details, aber er sagt nicht, wie wir vorgehen, und
er sagt nicht, was wir tun sollen. Auch er nimmt das Wort Töten nicht in
den Mund. Hoffnung? Und er sagt, daß die Ghoule uns möglicherweise
erwarten. Bedeutet das nicht, daß sie bis an die Zähne bewaffnet
Wache stehen werden? Werden sie uns nicht mit Flammenwerfern und Handgranaten
erwarten? Wissen wir was wir da tun?
Ich blicke mich um. Fast alle Kainiten der Domäne sind gekommen. Wenn das
eine Falle ist, kann man sie nicht mal als genial bezeichnen. Wir sind nur einfach
so dumm, wie Hans-Guck-in-die-Luft
fröhlich hineinzuspazieren.
Nur einige wenige sind nicht erschienen. Malekin hält die Stellung in Großhadern,
für den Fall, daß jemand - Ghoul oder Vampir? - heute Nacht medizinische
Betreuung braucht. Wie kann er noch solches Vertrauen in mich setzen und mich
alleine hierher schicken?
Christopher
ist nicht erschienen, und ich bin erleichtert darüber. Wenn er immer noch
in der selben geistigen Verfassung ist wie bei unserem letzten Treffen, dann
wäre er heute eine Gefahr für sich selbst und andere. Ob Herr Brunner
ebenfalls aus diesem Grund nicht hier ist? Vielleicht muß er sich um ihn
kümmern.
Josefa ist da, wieder in Begleitung des Geschichtsprofessors, dessen Namen ich
mir nicht merken kann. Sie wirkt nicht besonders beunruhigt. Immerhin bin ich
dankbar um ihren aufmunternden Blick.
Ich sehe ein unbekanntes Gesicht, ein schlanker, dunkelhaariger Mann im Anzug,
der etwas verloren in der Menge steht. Er stellt sich als Saldamore vor, und
außer mir scheint er der einzige zu sein, der unbewaffnet ist. Nicht besonders
klug, aber sehr sympathisch.
Obwohl das nicht ganz stimmt, denn ich habe eine Waffe mitgebracht. In meiner
Tasche befinden sich neben ein paar Blutkonserven einige Spritzen mit Betäubungsmittel.
Wird das wenigstens einem oder zwei Ghoulen heute nacht das Leben retten? Sicherlich
wird sich keiner die Mühe machen, jemanden zu töten, der schon betäubt
am Boden liegt? Ich versuche, es zu hoffen und wage doch nicht, daran zu glauben.
Thomas Kantner ist gekommen, auch er nickt mir freundlich zu. Doch etwas an
ihm ist anders als sonst. Großmutter, warum hast du so große Zähne?
Der Eindruck verfliegt. Wahrscheinlich sehe ich schon Gespenster.
Und Gespenster sind hier zu sehen. Ein Leichenwagen fährt vorbei. Ich bin
mir nicht sicher, ob das ein vereinbartes Zeichen ist, doch offenbar ist das
der Anlaß zum Aufbruch.
Während wir uns in Richtung des Ghoulverstecks in Bewegung setzen, bietet
er mir einen Asbestanzug an. Ich muß an den Sabbat-Abend denken, als er
mir ein Kettenhemd lieh. Das hat mal einer Freundin gehört... Was wohl
aus ihr geworden ist? Egal, ich lebe noch, und ich nehme seine Hilfe dankbar
an, auch wenn der Anzug mir viel zu groß ist und ich darin Schwierigkeiten
habe, mich leise zu bewegen. Doch ich werde mich daran gewöhnen, und niemand
anders wird es bemerken.
Wir sammeln uns kurz vor dem Eingang zum Ghoulversteck.