Lasalle macht sich entweder keine derartigen Gedanken, oder er muß das Fürchten erst noch gründlich lernen. Oh, wenn ihm nur gruselte. Aber er zieht mich mit sich nach oben. Niemand auf dem Gang. Die erste Tür steht offen, dahinter sind offensichtlich leere Waschräume. Die nächste Tür ist ebenfalls geöffnet, hier stehen Feldbetten und Spinde. Mein Blick fällt flüchtig auf einige wenige persönliche Gegenstände - ein Mantel, eine Zahnbürste, ein Paar Socken - dann sind wir wieder draußen auf dem Gang. Die dritte Tür ist geschlossen.
Lasalle wirft mir einen kurzen Seitenblick zu - will er sich vergewissern, daß ich nicht die Nerven verliere? Dann sollte er noch an seiner Menschenkenntnis arbeiten, denn offenbar geht er davon aus. Wir nähern uns der Tür. Als wir davorstehen, wird sie geöffnet, jemand steht im Eingang und dreht sich nochmal nach den anderen im Raum um, um etwas zu sagen. Lasalle nutzt die Gelegenheit und schießt, und die Welt besteht nur noch aus Lärm und grellem Mündungsfeuer und beißendem Rauch. Warum überdeckt sein Maschinengewehr nicht die Schmerzensschreie, warum macht es mich nicht taub gegen die panikerfüllten Ausrufe drinnen, nicht blind gegen die verzweifelten Versuche der Menschen, aus der Schußlinie zu kriechen, nicht unempfindlich gegen den verlockenden Geruch der Blutes, der mit einemmal die Luft erfüllt?
Warum kann ich nicht die Augen schließen?
Die Ghoule haben sich gefangen, sie schießen zurück. So breit ist der Gang nicht, daß wir irgendwo stehen könnten, wo sie uns nicht auch treffen könnten. Hat Lasalle das bedacht? Hastig zieht er mich mit sich zurück in den anderen Schlafraum. Dort sind wir gefangen! Es gibt keinen anderen Ausgang! Sie brauchen bloß jemanden mitten in der Tür postieren, und wir kommen hier nicht wieder raus. So lange, bis jemand auf den Gedanken kommt, einen Flammenwerfer zu holen. Zum Glück haben wir sie in Panik versetzt - hah! Zum Glück! Genau das, was ich mir unter meiner Existenz als Vampir vorgestellt habe: Angst und Schrecken verbreiten! - und anstatt uns zu grillen, schlagen sie die Tür zu und sperren uns ein. Ich seh dich nicht, also siehst du mich auch nicht. Leider verbessert das gar nichts für uns, außer daß mir die Sicht auf all die Waffen, die sie auf uns richten, genommen ist. Und daß ich einen Moment lang in meiner Konzentration etwas nachlassen kann. Lasalle sieht sich im Zimmer um, plant mögliche Ausgangspositionen für einen Ausfall.
Weiter hinten ist eine kleine Tür zu einer in der Wand eingelassenen Abstellkammer. Ich könnte mich dort verkriechen und einfach warten, bis alles vorbei ist, wie das siebte Geißlein. Aber ich bin doch der Wolf, nein? Ich bin der, der sich verkleidet und ins Haus schleicht und Tod und Verderben über alle bringt. Ich kann ihr Blut durch die Türe hindurch riechen...
Lasalle winkt mich zu sich. "Sie haben sich zurückgezogen."
Woher weiß er das? Weil er draußen nichts mehr hört? Wenn ich einer von denen wäre, würde ich auch die Luft anhalten und mucksmäuschenstill sein. Und warten, daß die Türe sich öffnet. Doch er scheint überzeugt. Ich nehme wieder seinen Arm, doch etwas hält mich zurück. Etwas anderes als die Angst vor dem, was uns draußen erwartet. Was mich von ihm abstößt, ist die Angst, die ich nicht in seinen Augen sehe. Genießt er das? Hat er es in Ägypten ebenso genossen? Hat er es schon genossen, als er noch am Leben war?
Ich will es nicht wissen. Ich will nur hier raus. Ich will mehr als die Schatten, um mich vor der Welt zu verbergen. Ich will weg von diesem Geruch!
Hinter der Tür sind nur Leichen. Keine von unserer Sorte. Wirkliche tote Menschen. Sie liegen im Gang auf dem Boden, wie Spielzeug, das achtlos weggeworfen wurde. So wenig ist uns das Leben noch wert, daß wir uns nicht die Mühe machen, darüber nachzudenken, ob wir nicht irgendwann noch einmal mit diesen Puppen spielen könnten? So wenig, daß wir sogar ihr Blut ungekostet in den Holzdielen versickern lassen. So viel Blut, noch so frisch und warm...
Wir betreten den anderen Raum wieder. Vier Menschen liegen dort auf dem Boden. Vielleicht lebt hier noch jemand? Wenigstens einer? Vielleicht kann ich wenigstens hier noch helfen?
Lasalle löst sich von mir und beugt sich über jeden von ihnen um sich zu vergewissern, daß sie tot sind. Indem er ihnen die Kehlen durchschneidet. Jedem einzelnen. Ohne zu zögern. Der Boden färbt sich rot wie die Nacht, wie die Wut, wie der unkontrollierbare Haß, Haß auf ihn und auf alle Kainiten. Und auf mich selbst.
Warum helfe ich ihnen? Warum trage ich zu diesem Schlachtfest bei?
Aufnahme

Entlassung