Wie kann ich ein so einschneidendes Erlebnis wie einen Überfall weniger Eindruck hinterlassen als ein Nachmittags-Tee bei meiner Großtante? Irgendetwas stimmt da nicht. Und ich will wissen, was das ist. Vielleicht bin ich verrückt, aber ich muß diesen Mann - Vampir?? - wiederfinden. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich gehe heute abend ins Shockers.

Sonntag, 28.11.1996, 7:10
Ich habe ihn gefunden! Er existiert tatsächlich. Als ich ihn gesehen habe, war die Erinnerung mit einem Mal wieder da, so intensiv, als wäre seit dem Überfall keine Zeit vergangen. Dabei habe ich zuerst wirklich an mir gezweifelt. Alle laufen im Shockers rum wie Vampire, oder zumindest so, wie man sie sich vorstellt. Was für ein seltsamer Laden. Dagegen wirkte der Mann, der mich überfallen hat, direkt unauffällig. Logisch, wenn man darüber nachdenkt. Es kann schließlich nicht in seinem Interesse liegen, daß irgendein Spinner ihn aufgrund seines Aussehens tatsächlich für einen Vampir hält. Ein Spinner wie ich zum Beispiel. An und für sich beweist seine Anwesenheit im Shockers ja noch gar nichts. Immerhin bin ich mir ziemlich sicher, daß er mich auch erkannt hat. Erst da wurde mir klar, was für ein Risiko ich eigentlich eingegangen bin. Egal ob Vampir oder nicht, wenn er denkt, daß ich ihn identifizieren kann, könnte er alles mögliche tun. Wie dumm von mir, alleine hinzugehen. So mußte ich die ganze Nacht dort verbringen. Wenn ich vor ihm die Bar verlassen hätte, wäre er mir sicher gefolgt und...
Er und seine Begleitung - ob sie auch ein Vampir ist? - sind tatsächlich erst kurz vor Morgengrauen gegangen. Wie sie mich angelächelt haben! Zum Glück gab es noch ein paar andere Leute, die erst gehen wollten, als der Laden zugemacht wurde. Alleine hätte ich mich keinen Schritt vor die Tür getraut. In was habe ich mich da nur reingeritten?

Montag, 29.11.96, 3:51
Nachdem ich den ganzen Sonntag verschlafen habe - wie eine Tote, haha - komme ich heute mal wieder in den Genuß einer schlaflosen Nacht. Und das obwohl der Husten gar nicht so schlimm ist wie sonst. Die Luft im Shockers war wohl vergleichsweise gut. Und es ist mir nicht einmal aufgefallen, ob jemand in meiner Nähe geraucht hat. Es gab ja auch ungleich interessanteres zu beobachten.

Vampire! Was für eine Vermessenheit, an die Wirksamkeit alter ägyptischer Rituale und an Dämonen zu glauben, und die Existenz anderer ‚übersinnlicher' Wesen nicht einmal in Betracht zu ziehen! Was für seltsame Geheimnisse diese Welt wohl noch versteckt hält? Und wieviele davon werde ich noch die Gelegenheit haben zu entdecken? Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, auch wenn kein Arzt es wagt, mir das ins Gesicht zu sagen. Nein, dazu hat es einen Dämon gebraucht. Wenn niemand in dieser Welt mir helfen kann, dann bleibt mir nichts übrig, als es in einer anderen zu versuchen. Wieviel Hoffnung hat mir sein Erscheinen gemacht! Und wie schnell er alle Hoffnung wieder zunichte gemacht hat. Natürlich wußte er ein wirksames Heilmittel für meine Krankheit, und er verlangte erstaunlich wenig dafür, daß er es mir verriet.
"Das einzige, was dir Heilung bringen wird, ist der Tod."
In der nächtlichen Stille meines Zimmers kann ich den Nachhall seiner Stimme immer noch hören. Mit welchem Genuß er diese Worte aussprach! Und obwohl ich nicht an ihrer Wahrheit zweifle, weigere ich mich immer noch, freiwillig zu gehen.
Ich sitze am Schreibtisch unter dem Fenster und starre aus der bläulichen Dunkelheit drinnen in die absolute Dunkelheit draußen und löse mich darin auf wie Zucker in Kaffe, Weiß in Schwarz, Süß in Bitter...
Vampire! Vampire sind tot, und doch existieren sie weiter, hier, in dieser Welt, unter Menschen, an den selben Orten, zur selben Zeit, im selben Körper, mit dem selben Bewußtsein! Ist das die Antwort? Ist das die Möglichkeit, meiner Krankheit zu entkommen, ohne all das zu verlieren, woran ich so wider jede Vernunft hänge? Zum Vampir werden...?

Montag, 29.11.96, 18:10
Es muß so sein! Es ist zu perfekt. Den ganzen Tag habe ich darüber nachgedacht, und konnte keinen Haken daran finden. Abgesehen von der Durchführung des ganzen natürlich. Nach allem, was man von Vampiren so weiß, leiden sie nie an irgendwelchen Krankheiten. Wie auch, wo sie doch tot sind? Atmen müssen sie ja dann wohl auch nicht, d.h. selbst wenn meine Lunge in dem Zustand bliebe, in dem sie ist, könnte mir das herzlich egal sein.

Aufnahme

Entlassung