Er
schüttelt entnervt den Kopf, wie ein Vater, der zum fünften Mal das
zerbrochene Spielzeug seines Kindes repariert. Plötzlich ist die ganze
Gruppe wieder da und kümmert sich um ihre Menschen. Unsanft geben sie ihnen
von ihrem Blut zu trinken, gerade so lange, bis wieder ein Hauch von Leben in
sie kommt.
Spielzeug und Nahrung in einem.
Vielleicht wird uns in hundert Jahren auch nichts anderes mehr Spaß machen,
sagt Malekin.
Ich kann das Entsetzen in ihren Schreien nach mehr ebensowenig ertragen wie
das Entzücken und wende mich ab, schiebe ihr gequältes Lachen und
ihre Freude daran, unter unseresgleichen zu leiden, beiseite. Ist das Vampirsein?
Leid verursachen, ohne selbst darunter zu leiden? Leid verursachen, und es genießen?
Leid in Verzückung verwandeln, ohne ihm den Schmerz zu nehmen? Weil wir
es können? Die Faszination, die von dieser Macht ausgeht...
Ich will hier raus! Ich kann nicht atmen.
Mein Vöglein mit dem Ringlein rot
Singt Leide, Leide, Leide.
Es singt dem Täublein seinen Tod,
Singt Leide, Leide, Leide.
Das Spiel der Brujah ist
vorbei, ihre Menschen stürzen sich wieder in den Rausch dieses Festes,
sie wirken überdreht, high, eine Spur zu lebendig. Ich verabscheue mich
dafür, daß ich sie beneide.
Regel Nummer vier. Alles ist Wahnsinn.
Ich weiß. Ich müßte nicht hier sein, um das zu wissen. Ich
könnte mein ganzes Leben völlig allein mit geschlossenen Augen und
verstopften Ohren in einem verdunkelten Raum verbringen, und wüßte
doch, daß alles, alles was existiert, Wahnsinn ist. Was für einen
Sinn hätte es sonst?
Regel Nummer fünf bestätigt dieses
Wissen nur: alles ist ein Scherz.
Regeln sind etwas seltsames. Irgendjemand denkt sie sich aus, macht sich viele
schlaue Gedanken, die zum besten aller Beteiligten sein sollen. Die Regeln
werden akzeptiert, und zunächst bemüht man sich, sie einzuhalten.
Nach und nach wird der eigentliche Grund für die Regeln vergessen, doch
sie haben immer noch Gültigkeit. Die äußeren Umstände
ändern sich, nehmen den Regeln ihren offensichtlichen Sinn, und jeder
beginnt sie zu brechen. Aber immer noch sind die Regeln unumstößlich.
Wer sie bricht, wird bestraft, und sei es nur durch sein eigenes Gewissen.
Keiner
denkt daran, die Regeln zu ändern, obwohl sie für diejenigen gemacht
sind, die sie anwenden, nicht umgekehrt.
Die Gesetze der Maskerade sind vielleicht anders. So wie Menschenrechte. Ändern
kommt nicht in Frage. Genausowenig wie sie zu brechen. Jedenfalls nicht, ohne
alles und jeden in Gefahr zu bringen. Ob das auf Malekins Regeln auch zutrifft?
Wenn man sich die Gesetze der Maskerade anschaut, wirkt es, als wären Vampire
nur Menschen mit abweichenden Ernährungsgewohnheiten. Wenn man sich Vampire
anschaut, sieht man, daß sie mehr sind. Mehr Tier. Ihrer eigenen Natur
treuer. Ergebene Sklaven des Biests, das in ihnen genauso wie in jedem Menschen
steckt.
Eines der Spielzeuge - was für ein Wort! -, die mit uns zusammen angekommen
ist, kommt vorbei und unterhält sich mit uns. Sie gehört zu einem
Toreador, einem Künstler, der eine ganz spezielle Art von Kunstwerken produziert.
Kunstwerke, die sich um sehr viel mehr oder weniger lebendiges Fleisch drehen.
Ich betrachte sie genauer, sehe zahllose alte und neuere Narben, blaue Flecken,
Abschürfungen... Von jemandem zu trinken ist eine Sache, aber jemanden
zu verletzen, um sich an seinen Schmerzen zu weiden? Ich versuche in Malekins
Gesicht zu lesen, was er darüber denkt, doch er lächelt und beginnt
ein seltsames Spiel mit ihr, wiederholt immer wieder die gleichen, scheinbar
sinnlosen Worte, monoton, hypnotisch... Ich lasse mich von dem Spiel einfangen
und beginne mitzuspielen. Nehme Malekins Worte auf wie eine Partie cat in the
cradle und spreche sie nach. Das menschliche Kunstwerk blickt verwirrt von einem
zum anderen, wird immer unsicherer, und ich kann spüren, wie sie sich im
Netz unserer Gedanken verfängt, die Orientierung verliert, wie der Kontakt
zur Realität beginnt abzureißen. Das Spiel spielt sich von selbst,
ich brauche mich bloß treiben lassen und Spielregeln erfinden, wie es
mir gerade Spaß macht. Macht!
Doch Malekin bricht plötzlich ab, und unser Opfer flüchtet verstört.
Wir sollten hier keinen Menschen dementieren. Das verträgt sich selten
mit der Maskerade.
Das Bedauern, das ich über das frühe Ende dieses Spiels verspüre,
beunruhigt mich. Ich habe es genossen, jemand anderen zu kontrollieren, zu erschrecken...
an den Rand des Wahnsinns zu treiben? Was tue ich hier eigentlich?