Vielleicht kriege ich wenigstens das in meinen Kopf rein. Nochmal sollte ich mich jedenfalls nicht so blamieren, also aufgepaßt!
Nicht aufgepaßt!
Wer steht hinter dir?, fragt Malekin plötzlich. Es steht niemand hinter mir, als ich mich umdrehe, aber kann ich sicher sein, daß nicht gerade noch...?
Es ist wichtig, immer auf seinen Rücken zu achten. Und noch wichtiger, jemanden zu haben, der das für einen tut, wenn man es nicht kann. Wer steht hinter mir?
Ich betrachte mir die Gestalten hinter Malekins Rücken genauer. Auf den ersten Blick wirken sie alle gleich, nicht einmal Vampire und Menschen sind zu unterscheiden. Und doch, wenn man richtig hinsieht, gibt es Details, Kleinigkeiten, versteckte Hinweise, die sie identifizierbar machen. Nicht einzuordnen, aber auseinanderzuhalten.
Ventrue. Jede Wette, sagt Malekin.
Der Mann mit dem Schnurrbart? Oder der dahinter, der sich grade mit Genuß über ein menschliches Opfer hermacht? Hoffentlich menschlich.
In so einer Umgebung ist es schwer, Menschen und Vampire auseinanderzuhalten. Der Lärm und der Rauch behindern deine Wahrnehmung. Siehst du diesen Menschen dort?
Ich sehe. Er meint das Opfer des Ventrue.
Konzentriere dich. Hörst du ihren Herzschlag? Ihren Atem? Fühlst du ihre Wärme? Riechst du ihr Blut?
Ich höre. Ich fühle. Ich rieche. Rieche. Will schmecken. Will! Ich höre mein Verlangen, das nach ihrem Blut schreit. Ich fühle die Gier in mir, die größer ist als ich, den Hunger zwischen meinen Augen. Rieche, rieche Menschenfleisch.
Nicht! Ich will das nicht! Vielleicht werde ich es irgendwann müssen, aber wollen will ich es nicht. Reiß dich zusammen! Was ist so schlecht an Blut aus Gläsern und Konserven?
Malekin lächelt. Als du sie angesehen hast, hast du geatmet.
Habe ich?
Vergiß nie zu atmen. Atmen kann den Unterschied zwischen einem angenehmen Abend und einem Grillfest bedeuten. Vergiß nie zu atmen.
Seltsam, wie schnell man vergißt.

 

Malekins zweite Regel ist ‚Alles verändert sich'. Auf den ersten Blick einleuchtend. Gilt das auch für die Regeln selbst?
Der Lärm der Musik von unten wird plötzlich von Schreien übertönt. Jemand ruft nach einem Krankenwagen. Ein Mann liegt reglos auf dem Sofa, die Vampire um ihn herum beachten ihn kaum, sondern amüsieren sich über den Mann, der um Hilfe gerufen hat. Oder besser mit ihm, so lange, bis auch er zu Boden sinkt. Sie sind Brujah, ein Clan, den ich bis jetzt noch nicht kennengelernt habe. Die Rebellen unter den Vampiren. Sie haben schöne Ideen, sagt Malekin. Zu schade, daß man meistens einen Vorschlaghammer braucht, um sie aus ihren Köpfen herauszubekommen.
Wir gehen hinunter, um aus der Nähe zu sehen, was geschieht. Mein Magen krampft sich zusammen, als wir uns den leblosen Körpern nähern, an denen die anderen Vampire achtlos vorbeilaufen. Malekin beugt sich über einen, berührt sein Gesicht.
Er fühlt, was du gefühlt hast. Willst du es selbst spüren? Schnell, komm her.
Ich will nicht, aber ich muß lernen. Malekin nimmt meine Hand und legt sie auf sein Gesicht.
Ich bin kalt, ich bin leer, jemand hat mich ausgetrunken. Mein Herz schlägt ohne Wirkung, bald wird es schlafen. Stimmen von weit weg, in der Ferne ein schwaches Licht am Ende des Tunnels... aber kein Spiegel, hinter den ich mich flüchten könnte! Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. Er darf so nicht sterben!
Können wir nichts für ihn tun?
Unser Blut ist nicht für ihn. Wir können ihm nicht helfen. Die Maskerade bröckelt. Sie töten.
Warum tun sie das?
Weil sie es können. Siehst du, wie achtlos sie an den beiden vorbeilaufen? Es bedeutet ihnen nichts.
Weil sie es können. Ich muß mich setzen.
Du blickst in einen Spiegel. Das Gesicht, das zurückblickt, ist dir vertraut, du siehst es jeden Tag, du kennst es. Dann zerbrichst du den Spiegel, und tausend neue Gesichter sehen dich an.
Zerbrich alle Spiegel, ist Regel Nummer drei.
Ich kann meinen Blick nicht von den beiden Sterbenden vor uns wenden. Einer der Brujah ist zurückgekehrt.
Aufnahme

Entlassung