Sie scheint bereit, sich Ferse und Zehe abzuschneiden, bevor sie eingesteht, daß ihm der Schuh paßt. Vielleicht hat sie recht, und ich bin wie immer zu vertrauensselig.
Doch zunächst muß ich mich wieder um Anna kümmern. Wenn sie verstört ist, merkt man es ihr nicht an, im Gegenteil, sie ist ausnehmend ruhig. Irgendwie glaube ich nicht, daß das noch der Effekt von Josefas kleinem Eingriff in ihren Kopf ist. Eher die Manifestation eines Zorns, der sie zu etwas sehr Gefährlichem machen könnte, wenn sie erst eine von uns ist. Falls sie dazu werden will.
'Hast du das auch schon mit mir getan?' fragt sie in einem Ton, den man für teilnahmslos halten könnte, wenn man nicht ganz genau hinhörte. Plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Wie kann ich es als völlig normal akzeptieren, jemanden dazu zu bringen, seinen eigenen Gefühlen nicht mehr trauen zu können?
'Nein. Ich schwöre dir, ich habe das noch niemals getan. Weder mit dir noch mit andern.' Aber würde ich es nicht doch tun, wenn ich es könnte? Ihr Vertrauen beschämt mich.
'Hör zu, die meisten hier halten dich für eine Gefahr. Wenn jemand etwas von der Existenz von Vampiren erfährt, kann das ziemlich böse für uns enden. Deshalb ist die Wahrung der Maskerade unser oberstes Gesetz.' Ich werfe einen Seitenblick auf Eva-Maria. Wenigstens soviel scheint sie schon mitbekommen zu haben. Doch als sie meine Aufmerksamkeit hat, beginnt sie sofort wieder zu fragen.
Curiosity killed Katinka? Wenn das den ganzen Abend so weitergeht, dann werde ich diesen Satz irgendwann umkehren.
Man sollte vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht, denn die nächste Unterbrechung wird mehr als unangenehm.
Oberst Schlayer wendet sich an alle, um nach den Kainitenerfassungsbögen zu fragen.
'Die bei den Ghoulen gefundenen Dokumente wurden offenbar über die ganze Domäne verteilt. Weiß irgendjemand etwas darüber?'
Stille.
'Kann mir jemand sagen, wer die Dokumente verteilt hat?'
Schweigen.
Wieso schweige ich? Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Menschen vor mir, die wir getötet haben.Wieso schweige ich? Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Menschen vor mir, die wir getötet haben.
Ich habe mitgeholfen, ich habe nichts getan, um auch nur einige zu retten, ich habe geschwiegen und mitgemacht. Und jetzt schweige ich immer noch, nur weil ich zu feige bin. Nein.
'Ich habe die Dokumente verteilt.' Meine Stimme klingt viel zu dünn, und doch richten sich alle Augen auf mich.
Oberst Schlayer hebt wieder die Augenbraue. Unheilverkündend.
'Sie haben dem Prinzen also wichtige Dokumente gestohlen, und sie dann an dritte weitergegeben. Können Sie mir sagen, wieso Sie das getan haben?'
Ich suche in mir nach dem Feuer, das mir an jenem Abend die Kühnheit verliehen hat, ihm und Lasalle die Stirn zu bieten, doch es will nicht brennen und mein Herz davon abhalten zu zittern. Ich horche auf die Stimmen der anderen, doch höre nur erwartungsvolles Schweigen. Was wird das Kind tun? Ich schließe die Augen und rufe mir die Gesichter der Getöteten ins Gedächtnis.
'Ich habe die Dokumente nicht gestohlen. Der Prinz hat sie achtlos auf dem Tisch liegenlassen, und sie wären verbrannt, wenn ich sie nicht mitgenommen hätte. Wenn ich sie hätte stehlen wollen, hätte ich sie für mich behalten. Aber ich habe sie verteilt, wie Sie wissen.'
'Glauben Sie nicht, daß das Sache des Prinzen gewesen wäre?'
'Der Prinz hält sich nicht an seine Versprechen. Ich habe keinen Grund, ihr Vertrauen zu schenken.'
Jetzt verstummt auch das letzte Gemurmel unter den Anwesenden. Das Kind hat den Herrscher beleidigt, und die Menge will Blut sehen. Wer von ihnen wird für mich sprechen, wenn Schlayer beschließt, daß die Majestätsbeleidigung nach einer Bestrafung verlangt?
Doch da zupft mich etwas am Ärmel. Es ist eine der Töchter der Angst, und sie ist ein kleines Mädchen und lacht und will mit mir Ringelreihen tanzen. Gut, wenn sie will, kann sie sogar einen Csárdás haben.
'Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?' fragt Schlayer, und seine Stimme ist bedrohlich ruhig und sachlich.
'Der Prinz hat mir sein Wort gegeben, daß den Gefangenen nichts geschieht. Nur deshalb habe ich mitgeholfen. Wo sind die Gefangenen jetzt, Herr Schlayer?'
Lasalle mischt sich ein. 'Teilweise sind sie noch am Leben.'
Aufnahme

Entlassung