Ich versuche gerade, den in erstaunliche Mengen verschiedenartigen Pelzes gekleideten Mann einzuschätzen, der bei uns steht, als ich hinter mir etwas wahrnehme.
Achte immer auf Deinen Rücken.
Ist Malekin doch schon hier? Ich drehe mich um. Hinter mir steht niemand, den ich kenne. Doch dieser Mann ein paar Stufen weiter unten... Er starrt mich an, und sein Blick durchdringt mich, fängt mich ein, als wäre ich nichts weiter als ein sprechendes Staubkorn in einem Universum, dessen Dimensionen jenseits des Fassungsvermögens meines Verstandes liegen. Alt. Sein Körper scheint nicht älter als 30, 35, doch seine Haltung, seine Bewegungen, seine Augen... seine Augen!
Automatisch bewege ich mich auf ihn zu. Stelle mich vor, als ob das noch nötig wäre.
Sein Name ist Gabor. Mit ihm zu sprechen ist wie ein altes Gebäude oder eine Ausgrabungsstätte zu betreten. Seine Augen sprechen vom Vergehen der Zeit wie die Jahresringe eines Baumes. Doch da ist noch etwas, etwas, das er mit allen anderen Anwesenden teilt. Verlangen.
Er ist durstig.
Ich besorge ihm ein Getränk, während ich selbst durstig bleibe. Niemals etwas trinken, das Malekin nicht vorher überprüft hat. So verlockend die tiefrote Flüssigkeit in dem Rotweinglas auch duftet, ich reiche es Gabor und versuche mich abzulenken, indem ich selbst einen Schluck Wasser nehme. Ohne Kohlensäure und mit viel Konzentration klappt das schon ganz gut.
Er verzieht das Gesicht genauso wie ich, als er trinkt. Kaltes, totes Blut. Er braucht es nicht auszusprechen. Die Konserve stillt sein Verlangen genauso wie ein Glas Benzin in der Wüste: die Flammen schlagen nur höher, statt gelöscht zu werden.
Er will, dass ich ihm diesen Ort, die Szenerie erkläre. Was kann ich sagen? Höllisches Verlangen. Beschreibt das vielleicht viel besser das, was er fühlt, diese fatale Sucht, die seine Existenz ebenso ausmacht wie unsere, die ihn aber ständig in der Schwebe hängen lässt, immer einen kleinen Schritt entfernt von einem endgültigen Zustand, sei es der Tod oder... Was für eine Hölle.
Ich wüsste zu gerne, wie Laurel das sehen würde. Überhaupt wäre es schön, Malfeis' Ghoul wiederzusehen, sich ohne den Tod im Nacken zu unterhalten. In einer ganz entspannten Atmosphäre, so wie hier zum Beispiel.
  Ich versuche, die hämmernde Musik zu ignorieren, die klingt, als würde sie einen Tick zu schnell abgespielt. Wenn ich mich zu Gabor beuge, um ihm über den Lärm hinweg etwas zu sagen, nehme ich etwas seltsam Vertrautes wahr. Ich rieche, rieche Menschenfleisch? Auch, aber das ist es nicht. Es ist ohnehin kaum noch etwas davon in ihm übrig, und das zu sehen macht mir Angst. Zu was haben wir ihn gemacht?
Ich frage ihn. Wer er ist. Wer er war, bevor er zu Malekins Ghoul wurde. Wie alt er ist.
Und er antwortet. Erschreckt mich. Aber seit ich Malekin bin, sind die Worte Lernen und Erschrecken ohnehin synonym geworden. Er ist älter als jedes Wesen, das ich bisher getroffen habe. Und ich sehe, wie sehr er unter der widernatürlichen Verlängerung seiner Existenz - darf ich noch von Leben sprechen? - leidet. Wie zuwenig Butter, die auf zu viel Brot verteilt wurde. Dünnes, trockenes Brot. Fast schäme ich mich dafür, ihm das Glas mit dem Konservenblut angeboten zu haben. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob es Malekin recht wäre, wenn ich ihm mein eigenes...
Gabor zieht ein Buch aus der Tasche. Ein abgenutzter brauner Einband mit altdeutschen Buchstaben. Vergilbte Seiten, die von brüchigen Fäden zusammengehalten werden. Alt. Wie er.
Er ist geschickt worden, um mich zu lehren. Das Wissen der Malekins, tief vergraben in seinem Gedächtnis. Dann ist seine Aufgabe erfüllt.
Was heißt das...?
Aber er hat eine Bedingung. Er will etwas von mir.
Vitae.
Verlangen.
Kein Menschenblut, sondern den Stoff, nach dem er schon so lange süchtig ist.
Meine Neugier ist geweckt. Schon allein deswegen will ich versuchen, seinen Wunsch zu erfüllen. Doch da ist etwas, das noch mehr wiegt als mein Wissensdurst. Seine Augen.
Hölle. Verlangen.
Zögernd ziehe ich meinen Handschuh aus und will ihm mein Handgelenk hinstrecken, doch er schüttelt den Kopf.
"Nicht Malekins Blut."
Er hat seit Jahrhunderten nichts anderes getrunken. Ich spüre es.
Kann es fast riechen. Er ist wahrscheinlich mehr Malekin als ich.
Entlassung
Aufnahme