Schmerzen?
Spuren seiner Krankheit? Anzeichen dafür, wie er damit fertig wird? Heilung?
Mich selbst?
Ich sehe ein schmales, blasses Gesicht, Müdigkeit, Anstrengung, Hilflosigkeit.
Zarte Haut. Wärme. Das Pulsieren seiner Halsschlagader, nur die Andeutung
einer Bewegung unter der weichen, hellen Haut. Blut. Ich rieche, rieche Menschenfleisch.
Asthma ist nicht ansteckend. Ich könnte gefahrlos von ihm trinken. Es müßte
ja gar nicht viel sein. Nur einen kleinen Schluck...
Bin ich wahnsinnig? Wieviel Blutverlust kann dieses Kind verkraften? Ich brauche
nur etwas zu viel zu trinken und er stirbt.
Bin ich deswegen in diesem Zimmer? Habe ich mir mit Absicht eine solche Herausforderung
gesucht? Ein winziger Fehler, nur ein Augenblick des Kontrollverlust, und die
Folgen sind fatal. Die Folgen für dieses hilflose, unschuldige Kind, mit
dem ich so sehr mitfühlen kann, das mich an mein eigenes menschliches Leben
erinnert. Die schwierigste Aufgabe mit dem größten Risiko - die beste
Gelegenheit zu lernen? Ich muß verrückt sein.
Ob ich wohl abschätzen kann, wieviel er verkraftet? Ich wünschte,
ich könnte wie Malekin in ihn eindringen, sein Innerstes erforschen, und
dadurch etwas über seine Verfassung erfahren. Er hat es mir oft genug gezeigt,
es zusammen mit mir getan, doch ich habe keine Ahnung, wie ich das alleine anfangen
soll. Dummes Mädchen.
Habe ich wirklich keine Ahnung? Ich weiß, wo ich hinwill, ich kenne bloß
den Weg nicht. Aber ist das nicht meistens so? Wenn ich mich statt auf den Ausgangspunkt
nur auf das Ziel konzentriere...
Ich beuge mich wieder über ihn, berühre vorsichtig mit der Hand seinen
Hals, lausche den leisen, mühsamen Atemzügen. Lausche dem zaghaften
Schlagen seines Herzens, dem Geräusch des Blutes in seinen Adern, lausche
dem Lied, das es für mich singt. Lasse mich von der Melodie davontragen,
lasse mich in diesen Strom fallen wie ein Blatt, das sich von seinem Baum trennt,
um auf den Wellen des Flusses zu tanzen. Ich bin in ihm. In seinem Blut. In
seinen Adern, in seinen Organen, seinem Herzen, seiner Lunge -
Ausatmen! Konnte ich das wirklich so schnell vergessen? Bei einem Asthmaanfall
ist es wichtig, auszuatmen, auch wenn einen die eigenen Reflexe zum Einatmen
zwingen wollen. Stimmt nicht. Ich muß nicht mehr ausatmen. Einatmen auch
nicht. Trotzdem ringe ich krampfhaft nach Luft. Reiß dich zusammen! Alberne
Reflexe. Albernes Mädchen.
Der
Junge beginnt ebenfalls zu husten. Natürlich, die alte Regel. Laß
nie zwei Asthmatiker zusammen in einem Zimmer schlafen, oder sie bringen sich
innerhalb von kürzester Zeit gegenseitig um. Asthma ist doch ansteckend.
Der Anfall sieht schlimm aus. Er muß sich aufsetzen, sonst bekommt er
gar keine Luft mehr. Vorsichtig schiebe ich eine Hand unter seinen Rücken
und richte ihn auf. Ich weiß, wie ich es gehaßt habe, wenn mich
jemand während eines Anfalls auch nur angefaßt hat, aber das muß
sein. Ausatmen, Kleiner, sonst bekommst Du keine Luft in Deine Lungen. Komm
schon, Du kannst das. Na also.
Ich weiche einen Schritt zurück, aber es ist zu spät, er hat mich
gesehen. Schaut mich aus großen, dunklen Augen an. Keine Spur von Angst.
Statt dessen Neugier. Die Atemnot ist schon vergessen.
Bist du ein Gespenst? fragt er.
Ein Gespenst? Naja, was soll er auch sonst denken. Für die Zahnfee bin
ich wohl etwas zu blaß.
Nein, ich bin kein Gespenst, sage ich. Ich bin nur ein Besucher.
Wieso bist du hier?
Um nach dir zu sehen. Um deinen Schlaf zu bewachen. Du mußt jetzt gang
schnell wieder schlafen.
Wie heißt du? Natürlich ignoriert er meine Aufforderung.
Ich heiße Malekin. Und du?
Kai. Hast du auch Asthma?
Er sieht mich aufmerksam an. Blicken diese dunklen Augen direkt in meine Seele?
Ich muß plötzlich an Ira denken.
Ja, ich hatte auch mal Asthma.
Und jetzt nicht mehr?
Die Hoffnung, die in dieser Frage mitschwingt, bricht mir das Herz. Oder ist
es die Hoffnungslosigkeit? Kann ich ihm guten Gewissens eine Antwort geben?
Jetzt bräuchte ich eine kluge Bauerstochter, die mir hilft, weder geritten
noch gefahren, weder nackend noch angezogen zum König zu kommen.
Du mußt jetzt wirklich schlafen, damit du gesund wirst. Soll ich Dir eine
Geschichte erzählen?
Er lächelt nur, und wieder habe ich das Gefühl, daß seine Augen
bis auf den Grund meiner Seele blicken.