Vielleicht haben sie Nachricht von denen, die in München zurückgeblieben sind? So wenig ich die Münchner Vampire kannte, so leid tut es mir, daß jeder Kontakt abgebrochen ist. Die meisten von ihnen haben mir Angst gemacht, und viele von ihnen haben in mir nicht mehr gesehen als ein Spielzeug für einen Abend. Und doch... ich habe von ihnen gelernt. Ich wüßte gern, was aus ihnen geworden ist.
Doch die Delegation aus München besteht nur aus den drei angekündigten. Ich erinnere mich vage an die Gesichter von Christopher und Krell, beide waren auf der Vernissage. Den Giovanni habe ich noch nie gesehen. Sieht gar nicht italienisch aus. Dafür ist etwas an ihm, das mich an Friedhöfe denken läßt:
Ach, du liebes Hirtelein, / du bläst auf meinem Knöchelein, /mein Bruder hat mich erschlagen, /unter der Brücke begraben, /um das wilde Schwein, /für des Königs Töchterlein.
Ich weiß nicht mal, was für ein Märchen das ist, das mir bei seinem Anblick in den Sinn kommt. Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten. Aber es hat sicherlich etwas zu bedeuten, daß zwei der drei verletzt sind. Der Giovanni sieht aus, als hätte ihn jemand wenig liebevoll gewürgt, und Krells Gesicht ist schauerlich zerkratzt. Und es geht ein seltsamer Geruch von ihnen aus. Ein Geruch, der mir die Haare zu Berge stehen läßt. Ich muß mich erst noch daran gewöhnen, alles so intensiv riechen zu können. Früher gab es für mich kaum etwas intimeres, als den Geruch eines Menschen wahrzunehmen. Jetzt kann ich alles und jeden auch auf größere Entfernung riechen, und ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt.

Ach mein Kind! Du wirst lernen, Deine Sinne zu beherrschen. Du wirst lernen, die Muster zu erkennen, die sie alleine durch ihre Schritte bis zum Prinzentisch gezogen haben. Und doch, wie in einem Maelstrom treiben die Muster zu dem Präsent, welches sie bringen, nein?

Sie treten vor den Prinzen und stellen sich vor. Ich kann die Unruhe, die Spannung der Vampire um mich herum fühlen. Nur Malfeis unterhält sich unbeeindruckt mit einer hochgestellten Persönlichkeit aus Frankfurt. Er will uns vorstellen, gerade, als Krell einen Sack hebt und langsam öffnet. Muß ich jetzt wirklich höflich sein, wo es so spannend wird? Wir wenden uns dem Frankfurter zu, als plötzlich ein Aufschrei durch die Menge geht. Was hat Krell dem Prinzen mitgebracht? Die Höflichkeit wird auf einen passenderen Zeitpunkt verschoben, jetzt ist sogar Malfeis interessiert. Der Geruch ist unerträglich,

Köstlich...

der Gesichtsausdruck des Prinzen voller Entsetzen, der ganze Saal in Aufruhr.
Der Münchner Brujah hat den Kopf eines Werwolfs vor die Füße der fassungslosen Abendgesellschaft geworfen. Großmutter, warum hast du so große Zähne?

Damit ich Dich besser sehen kann. Ich reiße meine Augen von den Reißzähnen - dens canis, nein? - und lasse mich von den Gesichtern, den fassungslosen, den faszinierten, den verbitterten, den kalten und all den anderen unterhalten. Nicht einmal Auspex brauche ich. Ob es nicht klüger wäre, ein wenig das Orakel zu spielen? Aber nein, die Dementatio nocturna zieht mich nicht in ihren Bann, denn gebannt bin ich vom Spektakel, das nun folgen wird.

Jetzt, wo wir so nahe an der Bühne stehen, kann ich unter dem Geruch nach nassem Fell und totem Tier auch den Geruch seines Blutes wahrnehmen, und aus unerträglich wird mit einem Mal unwiderstehlich.

Köstlich...

Ich spüre, daß er die gleiche Wirkung auf Malekin hat. Er tritt einen Schritt näher. Damit ich dich besser fressen kann.
Nein, das ist falsch, das darf nicht sein. Das Blut dieses Tieres ist nicht für uns bestimmt. Es ist gefährlich. Ungesund. Malekin, bleib stehen! Bleib bei mir! Komm zurück!
Auf der Bühne entsteht eine heftige Diskussion, der Bann, der einen Moment lang über allen lag, ist gebrochen. Malekin ist wieder bei mir.
Die Münchner wurden offenbar unterwegs angegriffen, und stellen die Sicherheitsvorkehrungen der Innsbrucker - die mir bisher äußerst gut organisiert und effektiv vorkamen - in Frage. Die Innsbrucker befürchten einen Gegenschlag der Werwölfe. Die Wiener sind aufgebracht, weil das offenbar in ihrer Natur liegt. Könnte das Ärger für München geben?
Ich kann meine Augen nicht von dem toten Tier wenden. Zumindest eine Vermutung hat sich bestätigt: Werwölfe sind mindestens genauso haarig wie normale Wölfe. Und sehen mindestens so gut aus. Und ich bin mir sicher, daß ich keinen lebenden treffen möchte. Trotzdem... der abgetrennte, blutverschmierte Kopf, der vor den Füßen der Ahnen am Boden liegt, ist auf schreckliche Weise mitleiderregend.

Aufnahme

Entlassung